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shlomo SandSchlomo Sand

Haaretz, 27. Juli 2018

Warum
die plötzliche Aufregung über Rassismus?

Die Lösung, die nunmehr am Horizont sichtbar wird, läuft darauf hinaus, das in den besetzten Gebieten schon seit fünfzig Jahren eingeführte Apartheidsregime auszuweiten und auf den gesamten Staat Israel anzuwenden.

Ich verfolge die Reaktionen der Öffentlichkeit auf das neue Nationalstaat-Gesetz und habe das Gefühl als würde ich etwas übersehen. Ich versuche, zu verstehen, aber es will mir nicht so recht gelingen. Der Aufschrei von Journalisten, Essayisten, Juristen und Persönlichkeiten aus dem Literaturleben, dass dies ein rassistisches Gesetz sei, das den Geist des traditionellen Zionismus verletzt, scheint ehrlich und echt zu sein. Aber nachdem die Regelung beseitigt war, durch die die Einrichtung getrennter Kommunen nur für Juden ausdrücklich verfassungsrechtliche Legitimität erhalten sollte, scheint es mir, dass keines der anderen Elemente des Gesetzes, einschließlich des Geruchs nach Arroganz, der durch die Wortwahl hervorgerufen wird, in signifikanter Weise vom überlieferten Mainstream-Zionismus abweicht.

Hat sich irgendeiner der Leute, die gegen das Gesetz protestieren, gefragt, ob das zionistische Unternehmen ohne eine ethnozentrische Politik, die bei Journalisten und der Allgemeinheit als Rassismus bekannt ist, überhaupt durchführbar gewesen wäre? Anders ausgedrückt, hätten die führenden zionistischen Persönlichkeiten nicht vom frühen 20. Jahrhundert an dafür gesorgt, dass die Siedlungen rein jüdisch waren, und hätten sie nicht versucht sicherzustellen, dass die einheimische arabische Bevölkerung an den Plänen, „die Wüste zum Blühen zu bringen“ nicht beteilige wurde, hätte dann die Infrastruktur zum Aufbau einer ausschließlich jüdischen Gesellschaft jemals entstehen können?

Im Jahr 1917, als Lord Balfour seinen berühmten Brief an Lord Rothschild sandte, lebten 700.000 Araber und nicht einmal 70.000 Juden in Palästina, und etwa die Hälfte der Juden waren ultra-orthodoxe Anti-Zionisten. Eine aufgeschlossene nationale Politik, die eine Integration der  einheimischen Bevölkerung in das Projekt der „Wiedergewinnung des Landes“ angestrebt hätte, hätte das zionistische Projekt schon in den Kinderschuhen ermordet. Deshalb, und vielleicht nicht zufällig, war Arthur Ruppin, jener talentierte Vater der jüdischen Besiedlung, jener feinsinnige Intellektuelle, der zeitweise der Brit-Shalom-Bewegung angehörte, ein offen rassistischer Denker.

Selbst die linksgerichtete Hashomer-Hatzair-Bewegung, die an dem Slogan von der „Bruderschaft der Nationen“ festhielt und ziemlich lange die Idee eines binationalen Staates befürwortete (natürlich unter der Bedingung einer jüdischen Mehrheit), wäre nicht bereit gewesen, Einheimische in ihre Kibbutzim aufzunehmen. Ihre Mitglieder wussten, ebenso wie die übrige zionistische Linke, sehr genau, wie sie sich zu verhalten hatten, und wir müssen zugeben, dass sie recht hatten: Um die nationale Vision Wirklichkeit werden zu lassen mussten sie nicht nur ausschließlich jüdische Siedlungen befürworten, sondern mussten den Neuankömmlingen auch immer noch mehr Land zuweisen, das den Einheimischen gehörte.

„Immer noch ein Dunam, immer noch eine Ziege“ war das erste Gebot der neu entstehenden Gesellschaft, und die meisten Dunams, die sie bewirtschafteten, wurden nicht durch die Trockenlegung der Sümpfe gewonnen.  Das Prinzip der „hebräischen Arbeit“, das den Zweck hatte, so viele arabische Arbeiter wie möglich aus dem jüdischen Arbeitsmarkt zu verdrängen, komplettierte das Landgewinnungs-Unternehmen.

Dennoch war die Wiedergewinnung des Landes bis zum Unabhängigkeitskrieg von 1948 keine Erfolgsgeschichte. Am Ende gelangte nur wenig mehr als 10 Prozent des Landes in jüdische Hände. Aber dann kam der Krieg und rettete die Situation.

Die Vertreibung oder Flucht von 750.000 Einheimischen stellte eine sehr viel signifikantere Wiedergewinnung von Land dar. Die Felder und Obstgärten, die ursprünglich von einheimischen Bauern bewirtschaftet worden waren und die später als „Eigentum von Abwesenden“ bezeichnet wurden, wurden den Kriegsflüchtlingen nicht zurückgegeben. Sie durften weder zurückkehren noch wurden sie kompensiert.

Das so gewonnene Land wurde augenblicklich dem neuen Staat Israel übertragen. Die neue demokratische Staatsmacht hielt es für gerechtfertigt, den Großteil des Landes dem Keren Kayemetz Leisrael – dem jüdischen Nationalfond zu übergeben, dessen Grundbesitz bis heute nicht allen israelischen Staatsbürgern gehört, sondern dem jüdischen Volk, wo immer es sich befindet.

Am Vorabend des Krieges besaß der KKL – JNF etwa 900.000 Dunam (1 Dunam = 1.000 qm). 1950 waren es bereits 3,5 Millionen Dunam. Von diesem Zeitpunkt an bis heute war es ihm untersagt, diesen nationalen Besitz zu verkaufen – er kann ihn nur verpachten – und nur an Juden.

Seit damals wurde immer mehr Land enteignet, das zuvor die einheimischen Bauern bewirtschaftet hatten, und auf diesem Land wurden etwa 700 jüdische Gemeinden gegründet. Zugegebenermaßen wurden auch ein paar Städte für Beduinen gebaut, damit sie nicht unkontrolliert auf dem Territorium des jüdischen Staates herumzogen. Aber für Israels palästinensische Staatsbürger wurde nicht eine einzige Stadt oder Gemeinde gebaut. Slogans wie „Judaisierung von Galiläa“ oder „Judaisierung des Negev“ wurden sowohl von der Rechten wie von der Linken so bedenkenlos akzeptiert, dass niemand auf die Idee kam, sie könnten einen rassistischen Beigeschmack haben.

Wohlmeinende Liberale werden dennoch und mit Recht entgegnen, man könne 1948 und selbst 1958 nicht mit 2018 vergleichen. Die territoriale Kontinuität, die damals erreicht wurde, ermöglichte die Gründung eines souveränen Staates für leidgeprüfte Juden nach dem Genozid der Nazis, und deshalb musste der Zionismus rassistisch sein. (Diese Überzeugung veranlasste den Atheisten Ben-Gurion, den religiösen Juden das Monopol für Eheschließungen und Scheidungen einzuräumen, um eine Assimilierung von Nicht-Juden, die der Himmel verhüten möge, unmöglich zu machen). Jetzt, wo die Souveränität konsolidiert ist, sagen sie, gibt es keine Rechtfertigung für eine Fortsetzung dieser Politik.

Um unser Land zu stärken müssen wir deshalb danach streben, es in die Richtung zu einer säkularen, egalitären Demokratie zu drängen, die sich das Wohl aller ihrer Bürger und nicht nur der Juden zum Ziel setzt. Das jetzige Nationalstaatsgesetz, das ein legitimer Spross der zionistische Tradition ist, verhindert diesen Prozess der Israelisierung.

Dieses logische liberale Argument könnte sogar sinnvoll sein, wenn Israel nicht die Gebiete besetzt hätte, die es 1967 erobert hat. Die Besatzung erzwang eine jüdische Souveränität nicht nur über die Altstadt von Jerusalem, den Tempelberg und Hebron, die Stadt unserer Vorväter, sondern auch über zusätzliche Massen von ursprünglichen Bewohnern des Landes, die heute rund 5 Millionen zählen. Angesichts dieser demographischen Menge, musste die jüdisch-zionistische Identität erneut geschützt und abgegrenzt werden – nicht nur mit Hilfe von Betonmauern und Stacheldraht, sonder auch durch Verfestigung des nationalen Charakters des Staates.

Hier stellt sich allerdings die Frage : Wenn Israel sich als jüdischen Staat erhalten möchte, warum versuchte es dann nicht, sich von „Judäa und Samaria“ zu befreien?

Die Gründe, aus denen Israel nicht auf die besetzten Gebiete verzichten kann, sind zu zahlreich, um sie alle hier aufzuzählen. Deshalb werde ich hier nur zwei davon erwähnen. Erstens werden die Palästinenser niemals auf die Souveränität über die Al-Aqsa-Moschee verzichten, aber ich kann mir auch keinen israelischen Staatschef vorstellen, der es wagen würde, auf den Tempelberg zu verzichten, oder der auch nur in der Lage wäre, die jüdische Siedlung in Hebron aufzulösen. Die Siedlungsbewegung hat den Traum der zionistischen Linken von zwei Staaten, einem israelischen und einem palästinensischen, oder auch nur von einem und einem halben Staat, von der Tagesordnung verdrängt.

Zweitens muss auch diese Wahrheit gesagt werden: Einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zu errichten wäre keine Lösung für das Kardinalproblem, das die zionistische Linke jahrelang zu ignorieren versucht hat. Einen palästinensischen Nationalstaat an der Seite Israels zu gründen, das selbst darauf besteht, sich als Nationalstaat des jüdischen Volkes zu sehen, würde mit Sicherheit bei den palästinensischen Israelis irredentistisches Denken hervorrufen (eine politische Ideologie, der zufolge politische und nationale Grenzen identisch sein müssen).

Die palästinensischen Israelis stellen 21 Prozent der Bevölkerung Israels dar, und trotz der intensiven Judaisierung Galiläas sind sie dort nach wie vor die Mehrheit. Wenn Israel weiterhin für sich in Anspruch nimmt, der Staat eines Volkes zu sein, das über die ganze Welt verstreut ist, und nicht der Staat aller seiner Bürger, warum sollten dann die ursprünglichen Bewohner von Galiläa nicht zu irgendeinem Zeitpunkt beschließen, aus Israel auszubrechen und ihre Gemeinden und die Überreste ihres Landes an ihren eigenen Nationalstaat anzuschließen? Würden die Brosamen von materiellen Vorteilen, die ihnen zugeworfen werden, sie auf die Dauer zufriedenstellen?

Die Lösung, die nunmehr am Horizont sichtbar wird, läuft darauf hinaus, das in den besetzten Gebieten schon seit 50 Jahren eingeführte Apartheidsregime auszuweiten und auf den gesamten Staat Israel anzuwenden, wenn sich der Konflikt intensivieren sollte. Offensichtlich wird das auch die Kultivierung von Bantustans von Kollaborateuren und die Aufrechterhaltung der letzen Reservate für die feindlichen Ureinwohner im Süden einschließen.

Und wenn das nicht geschieht gibt es immer noch die Alternative eines Transfers. Das wurde schon in der Vergangenheit versucht und hat sich als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Aber dafür würde man einen größeren Krieg benötigen, und meine Vorstellungskraft reicht nicht aus, auch nur zu erraten, wie man einen solchen Krieg beginnen könnte und wie er enden würde.

Shlomo Sand ist Historiker und Professor Emeritus an der Universität von Tel Aviv.

Übersetzung Ingrid Langhaeuser