Association Suisse-Palestine

L'ASP vous remercie pour votre don >>> IBAN:   Association Suisse-Palestine

Gastkommentar von Verena Tobler, NZZ 19.7.2014

HB-Zch-DSCN7761-low

Nicht jede Israelkritik ist antisemitisch

Vertreter der Gesellschaft Schweiz-Israel (GSI) und des Israelitischen Gemeindebunds (SIG) haben unlängst behauptet, die Plakat-Aktion von Palästina-Solidarität diffamiere den jüdischen Staat und spreche Israel das Existenzrecht ab. Beides sind Unterstellungen: Die Palästina-Petition hat den Staat Israel ausdrücklich anerkannt.

 

Aufmerksam machen wollen wir allerdings auf zwei «Konstruktionsfehler» des jüdischen Staates: Erstens war Israel eine Staatsgründung im kolonialistischen Sinn und Geist – zu einer Zeit verfügt, in welcher der Kolonialismus tragendes Element vieler Staaten war. Dafür votierten nicht nur die Kolonialstaaten Europas. Mit Australien, Kanada, Neuseeland, Südafrika, den USA und den Staaten Lateinamerikas stimmten europäische Siedlerkolonien dafür, die sich fremdes Land angeeignet und die indigene Bevölkerung von der Macht ausgeschlossen hatten. Alle islamischen Staaten sowie Kuba, Griechenland, Libanon, Indien stimmten dagegen; zehn Länder enthielten sich. Keine Stimme hatten die kolonisierten Völker. Es ist peinlich, wenn seitens des SIG betont wird, die damals dem Uno-Beschluss Unterworfenen hätten keinen Staat gehabt (NZZ 15. 5. 14) – es ist dies das Argument aller Kolonisten, die sich das Land anderer aneigneten.

Religiös-ethnische Staatsräson

Zweitens wurden Fakten zugunsten eines Phantasmas ignoriert. Der jüdische Staat ist eine anachronistische Konstruktion – eine verständliche zwar, wollte doch der Westen die Diskriminierung der Juden in Europa wiedergutmachen und das unvorstellbare Leid, das ihnen durch den Holocaust zugefügt worden war. Aber es war eine Wiedergutmachung auf Kosten der Bevölkerung, die in jener Region seit Jahrhunderten gelebt hatte. So wurden wirtschaftliche und soziale Fakten der Gegenwart dem Narrativ jener Juden geopfert, die sich diesen Landstrich als exklusive Heimat für ein phantasmagorisch überhöhtes hebräisches Volk erträumen.

Israel beruft sich heute auf völkisch-religiöse Zugehörigkeit und sieht alle Juden der Welt als seine potenziellen Bürger. Umgekehrt gelten Palästinenser, die sich nicht vertreiben liessen, als Bürger zweiter Klasse. Jene, die in Lagern und Besetzungen überleben, werden als Rechtlose behandelt. Deshalb mahnen wir zweierlei an: Erstens ist die moderne Staatsbürgerschaft säkular und soll es bleiben. Die religiös-ethnische Staatsräson Israels widerspricht den Menschenrechten: Diese verbieten, in Zugehörigkeitsfragen nach Geschlecht, Hautfarbe, Religion usw. zu diskriminieren. Dieses Prinzip der Staatszugehörigkeit gilt in allen modernen Staaten, die in der Lage sind, Bildungs-, Solidar- und Schutzaufgaben über Erwerbsarbeit und monetäre Abgaben zu organisieren: Israel gehört zweifellos zu diesem Klub. Religiöse und völkische Zugehörigkeitsdefinitionen sind gefährlich, auch wenn sie am Rande der Weltwirtschaft noch vorkommen. Ob Hindu-Fanatiker, islamischer Fundamentalist, jüdischer Siedler: Völkisch-religiöser Nationalismus führt dazu, dass Minoritäten diskriminiert, vertrieben, vernichtet werden – ein Rückfall in Zeiten vor der Aufklärung. Kant formulierte, als erster Philosoph der Weltwirtschaft, die Regel: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.»

Zweitens sind die Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen durch Israel ein Fakt. Wenn seitens der GSI verharmlosend festgehalten wird, dass sich im Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 die von der Uno-Generalversammlung definierten Grenzen verschoben hätten (NZZ 15. 5. 14), so ist festzuhalten: Grenzen verschieben sich nicht selber, sie werden verschoben. Und der gewaltsame Landraub schreitet voran: Seit 1967 hält Israel die palästinensischen Gebiete entgegen dem Uno-Beschluss besetzt. Das humanitäre Völkerrecht verbietet dem Besatzer die Landnahme und gebietet, die Ressourcen im Besetzungsgebiet im Interesse der Okkupierten zu verwalten. Doch Israel macht das Gegenteil: Die Siedler besetzen laufend neues Land. Das Grundwasser unter dem Westjordanland wird zu 80 Prozent für eigene Zwecke genutzt: In Israel beträgt der tägliche Wasserkonsum 242 Liter pro Kopf, während die Palästinenser des Westjordanlands nur 73 Liter pro Kopf zur Verfügung haben; in anderen Regionen sind es noch weniger. Dabei schreibt die WHO als Minimum 100 Liter vor. Gaza, das grösste Ghetto der Welt, wird systematisch abgeriegelt – ein Schandfleck für Israel, für die Uno, für Europa.

Kritik wird zum Bumerang

Wer Fakten benennt, diffamiert nicht, sondern verweist auf ein Problem. Im Juli 2013 schrieb selbst die NZZ, dass «Israel wirtschaftlich interessante Gebiete in den besetzten Gebieten für sich» vereinnahme und palästinensische Dörfer zerstöre, weil diese «illegal» gebaut worden seien. «Die Existenz mancher dieser Dörfer ist indessen in Reiseberichten vor 1900 dokumentiert, und das Land gehört nachweislich den Bewohnern.» Wer solches verleugnet, leistet Israel einen schlechten Dienst. Der Versuch, Kritik an den aktenkundigen Völker- und Menschenrechtsverletzungen als antisemitisch zu diffamieren, wird zum Bumerang. Das 20. Jahrhundert hat Katastrophen gebracht, die es zur Bürgerpflicht machen, dem Staat, dem eigenen und dem fremden, kritisch auf die Finger zu sehen. Intelligente Juden erinnern sich und wissen das: So konnten wir auch jüdische Quellen wie B'Tselem konsultieren. Erlittenes Unrecht kann nicht rückgängig gemacht werden; aber man kann sich entschuldigen und einen Ausgleich finden. Auch Konstruktionsfehler lassen sich bereinigen. Und Israel steht nicht allein in der Verantwortung: Die USA, Europa und die Schweiz tragen daran mit – deren jüdische und nichtjüdische Bürger.

Verena Tobler Linder, Soziologin, ist Initiantin und Koordinatorin der Aktion Palästina-Solidarität Schweiz.