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Startseite >> Aufgefallen >> Aufgefallen 16.12.2024: Die völkerrechtliche Bewertung des Terrorismuskriegs
Die völkerrechtliche Bewertung des Terrorismuskriegs
Essen 20. 11. 2024 Norman Paech
Quelle: www.norman-paech.de/app/download/5817599473/Terrorismus+und+V%C3%B6lkerrecht+-Essen.pdf
Seit nunmehr gut zwölf Monaten herrscht in Gaza ein Inferno, welches mit dem Wort Krieg zu harmlos beschrieben wird. Hier wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Völkermord verübt, den wir nach 1945 nicht mehr für möglich gehalten haben. Sie alle kennen die grauenerregenden Details, die uns täglich über Radio und Fernsehen geliefert werden, obwohl sie bei Weitem nicht die Realität abbilden, Teile verharmlosen oder verschweigen und nicht einmal das kritische Niveau der israelischen Presse erreichen. Die Anzahl der Opfer steigt täglich, selbst ausgewiesene Flucht- und Sicherheitszonen sind nicht vor gezielten Angriffen sicher. Dies alles, vom 7. Oktober bis zum heutigen Tag kann man unter dem Begriff Terrorismus versuchen zu erfassen. Beide Seiten werfen ihn sich gegenseitig vor, ohne dass dabei deutlich wird, was er genau erfasst und was sein Gebrauchswert ist. Ist er überhaupt geeignet, das zu erfassen, was derzeit im Gazastreifen geschieht?
Wir müssen deshalb nach den Gründen, dem Hintergrund der Kriegsziele und ihrer Motive für die vollkommen aus den Normen geratene Kriegswut fragen. Das mag dann einigen Aufschluss für die völkerrechtliche Bewertung des Terrorismus zu geben
Betrachten wir also die Intention und Strategie der Hauptbeteiligten Israel, USA und Hamas.
1.Israel
Netanjahu spricht offen aus, was er will, und man sollte ihn wörtlich nehmen: die Vernichtung der Hamas und Säuberung des Gazastreifens, was immer es kostet.
Das ist die Vollstreckung des expansiven und aggressiven Zionismus, wie er bei Ben Gurion schon angelegt und von Wladimir Zeev Jabotinsky weiter in die jüdische Gesellschaft gepflanzt wurde. Ob Schamir, Scharon, Olmert oder Netanjahu, sie alle sind Exponenten dieses scharfen, auf Expansion, Landraub und Vertreibung zielenden Zionismus nach dem alten Schlachtruf von Ben Gurion. „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. Was 1948/49 mit der Staatsgründung Israels für die palästinensische Bevölkerung zur Nakba – Katastrophe wurde, war nur der Auftakt einer Vision, die der2 Zionismus nie aus den Augen verloren hat. Wer drohte, sie zu vergessen oder zu verleugnen, wie Rabin, wurde ermordet. Die Radikalität dieser Ideologie scheute nie vor Krieg und militärischer Gewalt zurück, da ihr mit ihrer militärischen Überlegenheit der Sieg immer sicher war. Allerdings werden das Ausmass und die Unbedingtheit dieser Radikalität erst jetzt in Gaza deutlich, wo die politische und militärische Führung die Schwelle zum Völkermord überschritten hat.
Auch der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson macht sich keine Illusionen über die historische Tiefe dieser Politik. In seinen Worten: „Der Völkermord, den Sie heute erleben, ist also eine ausdrückliche Politik, und das war die Politik der Vorväter, der Gründer Israels. Die Idee eines Landes ohne Menschen war ein Land ohne Araber, ein Land ohne nicht- jüdische Menschen. Das war es, was es wirklich bedeutete. Sie sollten noch vor der offiziellen Gründung Israels, der ersten Nakba, dem arabischen Holocaust, vertrieben werden. Und die beiden israelischen Premierminister waren Mitglieder der Stern-Bande von Terroristen. Die Terroristen wurden zu den Herrschern Israels …“
In einem Weissbuch, das mehr als eine Woche nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 veröffentlicht wurde, präsentierte das „Institut für nationale Sicherheit und zionistische Strategie“ „einen Plan für die Umsiedlung und endgültige Eingliederung der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens in Ägypten“, der auf der „einzigartigen und seltenen Gelegenheit zur Evakuierung des gesamten Gazastreifens“ basiert. Das Dokument beginnt mit der Feststellung, dass im benachbarten Ägypten zehn Millionen Wohnungen leer stehen, die „sofort“ mit Palästinensern besetzt werden könnten. „Der nachhaltige Plan stimmt gut mit den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des Staates Israel, Ägyptens, der USA und Saudi-Arabiens überein.“ Der Autor schlägt zudem vor, dass Israel diese Grundstücke für fünf bis acht Milliarden Dollar kauft, die gerade einmal 1 bis 1,5 Prozent des israelischen BIP entsprechen. Der Plan lebt fort in dem was von dem ehemaligen Generalstabschef Giora Feidman als „Generalsplan“ jetzt an die Öffentlichkeit gekommen ist.
Universität Haifa der Regierung von Ariel Scharon detaillierte Pläne für die Isolierung des Gazastreifens vor. Die Pläne umfassten den vollständigen Abzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gebiet und den Aufbau eines strengen Überwachungs- und Sicherheitssystems, das gewährleistet, dass niemand und nichts ohne israelische Genehmigung ein- oder ausreisen kann. So geschah es dann auch, Scharon liess 2005 die Armee abziehen und3 evakuierte die Siedler. 2006, nach dem Wahlsieg der Hamas, verhängte er eine totale Blockade über den Gazastreifen. Sofer prophezeite ein ständiges Blutbad:
„Wenn 2,5 Millionen Menschen in einem abgeriegelten Gazastreifen leben, wird das eine menschliche Katastrophe sein. Diese Menschen werden zu noch grösseren Tieren werden, als sie es heute sind … Der Druck an der Grenze wird furchtbar sein. Es wird ein schrecklicher Krieg werden. Wenn wir also am Leben bleiben wollen, werden wir töten, töten und töten müssen. Den ganzen Tag, jeden Tag.“
Prophetische Worte, die Israel keine 20 Jahre später in die Realität umsetzen sollte.
Unabhängig von den ideologischen Triebkräften spielt natürlich die Überlebenstrategie Netanjahus eine Rolle. Es gab immer Stimmen, die vermuteten, dass Netanjahu den Krieg bis zu den US-Wahlen hinziehen werde und in dem möglichen neuen Präsidenten Trump seinen Rettungsanker sah – er hat dieses Ziel nun erreicht, die zionistische Lobby, nicht nur in Israel jubelt.USA
2. USA
Schauen wir auf die USA. Sie sind für Netanjahu und Israel seit Jahrzehnten der stärkste Verbündete und Schutzschild, so wie Israel für die USA der wichtigste Pfeiler im Mittleren Osten ist. Das liegt nicht nur an der jüdischen und evangelikalen Lobby in Washington, sondern vor allem an den nach wie vor in der Region liegenden reichen Ölvorkommen. Die strategische Position eines unbedingt loyalen und abhängigen Partners im arabischen Umfeld ist zudem besonders wichtig in der sich stetig aufbauenden Konfrontation zur Volksrepublik China. Die Dominanz im Nahen Osten ist einer der Fixpunkte US-amerikanischer Aussenpolitik seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Noch einmal Michael Hudson in einem kürzlichen Interview zum Gaza-Krieg: „Was Sie heute sehen, ist also nicht nur das Werk eines einzelnen Mannes, von Benjamin Netanjahu. Es ist das Werk des Teams, das Präsident Biden zusammengestellt hat. Es ist das Team von Jake Sullivan, dem Nationalen Sicherheitsberater Blinken und dem ganzen tiefen Staat, der ganzen Neokongruppe hinter ihnen, Victoria Nuland und allen anderen. Sie alle sind selbst ernannte Zionisten. Und sie haben diesen Plan für die Beherrschung des Nahen Ostens durch Amerika Jahrzehnt für Jahrzehnt durchgespielt.“4
Hudson meint sogar, dass die israelische Strategie der Besatzung und Kriegsführung auf den US-amerikanischen Praktiken und Erfahrungen im Vietnam-Krieg aufbaut. Ich will darauf hier nicht weiter eingehen. Ich stimme aber der Quintessenz seiner Analyse zu, dass die israelische Besatzungspolitik auf der gemeinsamen Strategie mit den USA beruht, den palästinensischen Faktor in der Region auszuschalten. Über die Methoden und Praktiken mag es, wie der Dissens über die Rafah-Offensive und die Säuberung des Nordens des Gazastreifens zwischen den Präsidenten Biden und Netanjahu zeigt, Meinungsverschiedenheiten geben – im gemeinsamen Ziel ihrer Politik sind sie sich aber einig.
Trotz aller öffentlichen Kritik an der gnadenlosen Kriegsführung der israelischen Armee – wenn es zur Abstimmung in der UNO kommt, kann Israel auf den Schutz der USA bauen. Selbst schwere Kriegsverbrechen der israelischen Armee, die Biden jetzt rügt, veranlassen ihn nicht zu wirksamen Massnahmen, diese zu unterbinden, zum Beispiel Stopp der Waffenlieferung oder Stopp der Finanzierung der Besatzung, so wie sie es unmittelbar nach den unbewiesenen Vorwürfen Israels gegen das UNRWA verfügt hat. Im Gegenteil, erst jüngst Mitte Mai hat Biden dem Kongress wieder einen Plan für Waffenlieferungen in Höhe von einer Milliarde Dollar vorgelegt, jetzt sind es sogar drei Milliarden. Das Verhandlungsangebot, das Biden vor einigen Wochen vorgestellt hat, wird von Netanjahu boykottiert. Er ist von seinem alten Ziel, die Hamas zu vernichten, bisher nicht abgerückt.
3. Hamas
Wer nach dem Hintergrund des Massakers vom 7. Oktober 2023 fragt, muss weit in die Geschichte des Palästinakonfliktes zurückschauen, noch vor die Gründung Israels und der Nakba 1948.
Dieser Konflikt war von Anfang an ein Siedlerkonflikt um Land und Ressourcen. Er war nie friedlich, die Siedler nie willkommen, die Beziehungen zwischen ihnen und der arabischen Bevölkerung waren immer von Gewalt geprägt. Zahlreiche anglo-amerikanische Kommissionen, die das Land vor 1948 bereisten, haben die Ablehnung der fremden Kolonisatoren immer wieder bezeugt. Das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn die jüdischen Siedler wollten nur das Land ohne das dort wohnende Volk. Betrachten wir die Geschichte Palästinas aus der Vogelperspektive, so ist es eine Geschichte permanenter Gewalt durch Landraub, Besatzung, Vertreibung und Diskriminierung. Alle Friedenskonferenzen mussten scheitern, weil sie das Grundübel dieses Siedlerkolonialismus nicht beseitigt haben, die Herrschaft der Besatzung. So musste es immer wieder5 zu Kriegen zwischen Besatzern und Besetzten, Herrschern und Beherrschten kommen – mit zunehmender Gewalt, Brutalität und Terror auf beiden Seiten. Der 7. Oktober 2023 war in der Perspektive der Geschichte ein voraussehbarer Ausbruch aus der Gewalt, aus dem „Freiluftgefängnis“ Gaza.
Die Hamas hat auch in ihrer neuen Charta von 2017 das Ziel festgeschrieben, das palästinensische Territorium „from the River to the Sea“ von dem „zionistischen Projekt“ zu befreien. Der Ton ist nicht mehr so martialisch wie in der Charta von 1988, das Ziel ist jedoch nach wie vor die Errichtung eines souveränen palästinensischen Staates Palästina mit Jerusalem als Hauptstadt. Vertreter der Hamas betonen jedoch, dass sie einen palästinensischen Staat aus den besetzten Gebieten akzeptieren würden, wenn Israel seine gegenwärtigen Grenzen, dh. die sog. Grüne Linie anerkennen würde. Die Hamas wiederum würde dann Israel in den klar definierten Grenzen auch anerkennen. Die Ziele der Hamas hat der ermordete Führer des politischen Flügels Hanieh seinerzeit sehr kurz und klar definiert: die Befreiung des Gazastreifens von der israelischen Besatzung und dem Militär.
Wiederholt betont die Charta das Recht auf Widerstand mit allen Mitteln, zu denen auch der bewaffnete Kampf gehört. Erst kürzlich hat der chinesische Vertreter bei der Anhörung des Internationalen Strafgerichtshofs zur Klage Nicaraguas gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Unterstützung des Völkermordes in Gaza den Palästinensern das Recht auf bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzung zugesprochen. In der NATO- Welt, zu der wir gehören, wird der Hamas die Qualität als Befreiungsbewegung – mit der kuriosen Ausnahme Erdogans – streitig gemacht. Sie wird als Terrororganisation ausserhalb der internationalen Rechtsordnung gestellt. Wer sich an die antikolonialen Freiheitskämpfe in den Sechziger- und Siebzigerjahren vor allem in Afrika erinnert, weiss, dass alle damaligen Befreiungsbewegungen als Terrororganisationen in den ehemaligen Kolonialstaaten bekämpft wurden. Erst mit dem Wechsel der Kämpfer von Camouflage zu Nadelstreifen in der Regierung wurden sie entkriminalisiert. Ich komme darauf noch einmal später zu sprechen. Nun mag das von Hamas propagierte Gesellschaftsmodell uns nicht gefallen. Das ist völkerrechtlich jedoch unerheblich. Wesentlich ist, dass die Hamas für die Beseitigung eines völkerrechtlichen Missstandes, der Besatzung, kämpft, wozu sie mit dem Recht auf Selbstbestimmung berechtigt ist. Dass dieser Befreiungskrieg immer Phasen des Terrors – und zwar auf beiden Seiten – mit sich brachte, sollte nicht vergessen werden. In den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gab es jedoch noch keine6 internationale Strafgerichtsbarkeit, die die Terrorgewalt hätte verfolgen können.
Um es kurz zu machen. So sehr es auch allen Parteien und Fraktionen in Regierung und Parlament widerstrebt, die Hamas ist eine Befreiungsbewegung mit dem Recht auf bewaffneten Widerstand. Das verpflichtet sie jedoch gleichzeitig, die Regeln des humanitären Völkerrechts zu beachten, vor allem den Schutz der Zivilbevölkerung. Jeder Angriff auf zivile Einrichtungen und Personen beim 7. Oktober 2023 ist ein Kriegsverbrechen und muss strafrechtlich untersucht und verfolgt werden. Der Internationale Strafgerichtshof führt derzeit Untersuchungen durch, der Antrag des Chefanklägers Karim Khan auf Erlass eines Haftbefehls gegen die israelische Spitze Netanjahu und Gallant sowie den bereits ermordeten Hanieh und die ebenfalls ermordeten militärischen Führer Sinwar und Deif ist ein Zeichen dafür, dass die internationale Justiz nun endlich ihre Verantwortung wahrnimmt und sich gegen die notorischen Bremser USA und Deutschland durchsetzen will. Allerdings sind nach der Ermordung der beiden Palästinenser nur die beiden Israelis und Mohammed Deif übriggeblieben.*
* Am Donnerstag d. 21. November 2024 hat der IStGH den vom Chefankläger Khan beantragten Haftbefehl gegen Premierminister Netanjahu, den ehemaligen Verteidigungsminister Gallant und den Militärkommandeur der Hamas Deif erlassen.
4. Völkerrecht
Blicken wir deswegen noch auf das Völkerrecht, welche Rolle es bisher in diesem Konflikt gespielt hat und welche Bedeutung es für die Beendigung des Völkermordes bekommen kann.
Israel hat seit dem Krieg 1967 eine tiefe Verachtung des geltenden Völkerrechts durch seine Besatzung gezeigt. Es war mit Südafrika das am meisten durch die Institutionen der UNO verurteilte Land – und hat sich nie darum gekümmert. Das hat immer gut gepasst zu dem notorischen Völkerrechtsnihilismus der US-Administration, die das Völkerrecht der UNO-Charta durch eine „regelbasierte Ordnung“ ersetzen möchte – wir kennen das. Es bedürfte dieser neuen Ordnung nicht, wenn man sich an das Völkerrecht hielte. Eine „regelbasierte Ordnung“ hat jedoch den Vorteil, nach den eigenen Interessen gebastelt zu sein, nach der Devise: Die Regeln bestimmen wir. Keine Regierung Israels hat je eine Resolution akzeptiert und höchstens mit dem Vorwurf des Antisemitismus reagiert. Die internationale Gerichtsbarkeit konnte dabei niemals eingreifen, es fehlte schlicht an Klägern. Erst seit wenigen Jahren hat sich das grundsätzlich7 geändert. Es sind jetzt insgesamt vier Gerichtsverfahren vor den beiden Internationalen Gerichten in Den Haag gegen Israel anhängig. Ich möchte hier nur auf ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) eingehen, das zwar unspektakulär, aber politisch äusserst wichtig ist. Es wurde im Juli mit einem Spruch abgeschlossen. Überraschenderweise stellte am 9. Januar 2023 die UNO-Generalversammlung an den Internationalen Gerichtshof die Aufforderung, über die Legalität der israelischen Besatzung zu ermitteln (Artikel 36 IGH-Statut). Es geht um drei Fragen, die dem Gerichtshof gestellt wurden: Welche Rechtsfolgen sind aus der permanenten Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser durch die Besatzung festzustellen? Und zweitens, welchen rechtlichen Status hat die Besatzung? Schliesslich, welche rechtlichen Konsequenzen folgen daraus für dritte Staaten, zum Beispiel für die Bundesrepublik oder für Frankreich? Ende Februar 2024 gab es vor dem Gerichtshof Anhörungen von 52 Staaten, die ihr Interesse an dem Verfahren angemeldet hatten, um ihre juristische Einschätzung dem Gericht zu übermitteln. Die Interessanteste war wohl die chinesische, die das Recht des palästinensischen Volkes hervorhob, sich auch mit Waffengewalt gegen die Besatzung zur Wehr zu setzen.
Am 19. Juli hat nun der Gerichtshof sein 80-seitiges Gutachten abgeben, in dem er die andauernde Besatzung Israels für rechtswidrig erklärt und Israel auffordert, die Siedlungstätigkeit sofort einzustellen, alle Siedler aus den besetzten Gebieten zu evakuieren und alle seine Truppen so schnell wie möglich aus den besetzten Gebieten abzuziehen sowie Schadensersatz für die angerichteten Schäden zu leisten. Dabei beliess es der Gerichtshof aber nicht. Er fordert zugleich alle Staaten und Internationale Organisationen einschliesslich der UNO auf, die Situation in den besetzten Gebieten nicht als legal anzusehen.
Der ist „der Auffassung, dass alle Staaten verpflichtet sind, die durch die unrechtmässige Anwesenheit des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten entstandene Situation nicht als rechtmässig anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der durch die fortgesetzte Anwesenheit des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten geschaffenen Situation zu leisten“. Das sollte statt der Fotos von ihren schönen Reisen auf den Schreibtischen von Kanzler und Aussenministerin stehen.
5. Terrorismus8
Der Vorwurf des Terrorismus ist in und um diese Gerichtsverfahren als wechselseitige Beschuldigung immer wieder präsent. Er spielt eine juristische Rolle, die vorwiegend auf der politischen Ebene wirksam wird. So bezeichnen Israel und die westlichen Staaten die Hamas als „militant islamistische“ und „Terrororganisation“, um ihr jede Legitimation abzusprechen. Sie stellen die Hamas damit gleichsam „hors de la loi“, ausserhalb des geltenden Rechtsrahmens. Für eine solche Organisation sollen die Regeln des humanitären Völkerrechts keine Gültigkeit haben. Ihr politischer Anspruch wird nicht anerkannt, er wird kriminalisiert. Dafür sei das nationale Strafrecht zuständig und nicht das Völkerrecht. Einen derartigen Status eines outlaws hatten davor die PLO und die in ihr zusammengefassten Organisationen wie die Fatah, PFLP, PDFLP etc. Aktuell wird auch die kurdische Bewegung PKK mit diesem Vorwurf versucht zu delegitimieren. Aufschlussreich für die Wirkungen, die sich mit der Aufnahme von internationalen Organisationen in Terrorlisten verbinden, mag das Beispiel der Kurdischen Arbeiterpartei PKK sein. Seit 1997 steht sie u.a. gemeinsam mit der Hamas auf der Terrorliste der USA. Sie wurde in der Bundesrepublik 2002 zum ersten Mal auf die Terrorliste gesetzt mit der Begründung, dass sie mit Waffengewalt für einen kurdischen Staat oder ein Autonomiegebiet im Südosten der Türkei kämpfen. Zur Rechtfertigung könnten sie sich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht berufen. Die PKK hatte sich allerdings schon 1996 von dem Ziel eines unabhängigen Kurdistan und dem bewaffneten Kampf getrennt. Sie hat ihre Forderung auf Autonomie und Selbstverwaltung beschränkt. Vorausgegangen war am 16. November 1993 ein Betätigungsverbot der PKK durch die Bundesregierung. 2014 hatte die EU ihren Platz auf der Terrorliste noch einmal bestätigt. Auf der Basis dieser Listung werden seitdem vollkommen legale zivile Aktivitäten von Kurdinnen und Kurden in der Bundesrepublik strafrechtlich mit den Paragraphen 129 a und b des Strafgesetzbuches wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verfolgt und zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Jüngst wieder in Hamburg ein Urteil über zwei Jahre Gefängnis, in diesem Jahr bereits sechs Urteile. Grundsätzlich geht es um die Frage, ob der Widerstand und seine Bewegung ein Recht auf Gewalt haben. Dies wäre eine Ausnahme von dem absoluten Gewaltverbot, welches die UNO-Charta in Art.2 Ziff. 4 den souveränen Staaten auferlegt. Die Diskussion über diese Frage geht bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. Seitdem hat sich in der UNO und in der allgemeinen Meinung diese Ausnahme vom Gewaltverbot für die Befreiungsbewegungen durchgesetzt. Die Initiative ging schon 1954 von den nichtpaktgebundenen Staaten aus, die auf ihrer Konferenz in Kairo9 den Einsatz von Waffen zum legitimen Recht der Kolonialvölker erklärten. 1970 griff die UNO-Generalversammlung dieses Votum auf und sprach auf ihrer 25. Sitzung vom „inhärenten Recht der Kolonialvölker, mit allen notwendigen, ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Kolonialmächte zu kämpfen, welche ihr Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit unterdrücken“. Nach einer Reihe weiterer Resolutionen, in denen der bewaffnete Kampf anerkannt wurde, entwickelte ein Komitee der UNO auf Anregung einiger afrikanischer und der sozialistischen Staaten die wichtigste dieser vergleichbaren Resolutionen, die im Dezember 1973 als Resolution 3103 (XXVIII) über „Grundlegende Prinzipien über den rechtlichen Status von Kombattanten, die gegen koloniale und fremde Herrschaft sowie rassistische Regime kämpfen“ gegen den Widerstand von 13 westlichen Staaten verabschiedet wurde. Ein Jahr später folgte die Entschliessung der Generalversammlung über die Aggressionsdefinition, die in ihrem Art. 7 ausdrücklich den antikolonialen und antirassistischen Befreiungskampf von dem Begriff der (verbotenen) Aggression ausnahm. Damit waren genügend Stimmen, Entschliessungen und Dokumente zusammen, die bezeugten, dass die überwältigende Mehrheit der Staaten den bewaffneten Kampf der Befreiungsbewegungen als legitim und mit dem Völkerrecht vereinbar anerkannten.
Natürlich gab es damals einen harten Kern vor allem ehemaliger Kolonialmächte und ihrer Wissenschaft, die gegen die Anerkennung argumentierten. Wenn aber auch jetzt noch den wenigen verbliebenen Befreiungsbewegungen wie der kurdischen PKK (Partiya Karkeren Kurdistane), der Frente Polisario in der Westsahara oder eben der Hamas und den anderen kleineren Bewegungen, wie der PFLP (Peoples Front of Liberation of Palestine) das Recht zum bewaffneten Kampf für ihre Befreiung abgesprochen wird, so zeigt das nur die lange Nachwirkung kolonialen Denkens, das immer noch die Köpfe angeblich aufgeklärter Wissenschaft und Politik beherrscht.
Schliesslich gelang es den Staaten auf der „Diplomatischen Konferenz“ 1977 in Genf, die nationalen Befreiungskämpfe als internationale Konflikte in Art. 1 Zif. 4 des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1949“ (ZPI) zu verankern. Den Kämpfern im Guerillakampf wurde damit der Status von Kombattanten und Kriegsgefangenen verschafft. Nur Israel stimmte dagegen.
Diese letztlich erfolgreiche Entwicklung, die Regeln des humanitären Völkerrechts auch auf die Befreiungskämpfe gegen koloniale Unterdrückung und Fremdherrschaft zu erstrecken, hat allerdings den Vorwurf des Terrorismus nicht aus der Welt geschaffen. Die historische10 Erfahrung zeigt, dass auch in Befreiungskämpfen ebenso wie in Kriegen zwischen Staaten auf die Mittel des Terrorismus zurückgegriffen wird. Akut wurde die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Befreiungskampf und Terrorakt 1972 nach einer Reihe von Flugzeugentführungen und dem Anschlag von Palästinensern auf die israelische Olympiamannschaft in München. Der Generalsekretär der UNO setzte das Thema auf die Tagesordnung der 27. Sitzung, denn es gab die Befürchtung, dass der Terrorismus zum Hebel gegen die Befreiungsbewegungen benutzt werde. Die Generalversammlung wiederum berief eine Kommission, handelte sich dabei aber eine Anzahl von Gegenstimmen ein, da sie gleichzeitig die Legitimität des Befreiungskampfes bestätigte und die terroristischen Akte kolonialer und rassistischer Mächte verurteilte.
Das war und blieb der zentrale Streitpunkt, weswegen es bis jetzt keine allgemein akzeptierte Definition des Terrorismus gibt. Während die ehemaligen Kolonialmächte die Befreiungskämpfe in die Terrorismusdefinition hineinnehmen möchten, dringen die inzwischen befreiten Staaten darauf, auch den Staats-Terrorismus als solchen in die Definition aufzunehmen. Da es darüber keine vertragliche Einigung gibt, bleibt der Terrorismus in der allgemeinen unverbindlichen politischen Debatte gegenseitiger Beschuldigung. Überwiegende Einigkeit scheint jedoch darüber zu bestehen, dass es bei der Unterscheidung nicht auf die angewandten Mittel und Methoden, sondern vielmehr auf die Ziele und Motive der Kampfführung ankommt, wie es die Kommission in ihrem Bericht formulierte:
„Völker, die darum kämpfen, sich von fremder Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien, haben das Recht, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, auch Gewalt. Es wurde betont, dass der Ausschuss nicht alle Gewaltakte auf internationaler Ebene, unabhängig von ihrem Zweck und ihren Motiven, unter den allgemeinen Begriff des internationalen Terrorismus fassen sollte; Handlungen, die von Bürgern von Staaten begangen werden, die sich im Kriegszustand befinden und die sich dem Angreifer in den besetzten Gebieten widersetzen oder für ihre nationale Befreiung kämpften, können nicht als Akte des internationalen Terrorismus betrachtet werden: Handlungen jedoch, die von einem einzelnen Staat gegen Menschen mit dem Ziel durchgeführt wurden, ihre nationalen Befreiungsbewegungen auszulöschen und den Widerstand gegen die Besatzer zu brechen, sind wahre Manifestationen des internationalen Terrorismus im weitesten Sinne“.
Trotz dieses völkerrechtlich eindeutigen Befundes, der auch die Hamas unabhängig von ihrer Religion und Gesellschaftsverständnis als Befreiungsbewegung qualifiziert, wird sie in Israel und den westlichen11 Staaten als Terrororganisation disqualifiziert, die kein Recht auf Gewalt gegen die Besatzungsmacht hat. Selbstmordattentate gegen Siedler und israelische Zivilisten sind genauso verboten wie die Angriffe am 7. Oktober 2023 auf Zivilisten in den Kibbuzim oder dem Rave-Festival. Sie stellen Kriegsverbrechen dar, die verfolgt werden müssen. Das stellt jedoch nicht den Ausbruch aus dem „Freiluftgefängnis“ Gaza, den Durchbruch durch die Absperrung, die Überwindung der Grenze und den Angriff auf Teile der israelischen Armee und ihre militärischen Einrichtungen unter Terrorverdacht. Die Absicht des Angriffs, Angst und Panik unter den Kibbuzbewohnern und Besuchern des Festivals zu erzeugen, erfüllt zweifellos alle Merkmale des Terrors, illegalisiert den Ausbruch selbst aber noch nicht als Akt des Terrorismus. So antwortete der in den USA lebende und lehrende Historiker Rashid Khalidi auf die Feststellung des Interviewers, „Manche bezeichnen die Hamas schlicht als Mörderbande“ mit den Worten:
„Ich denke, hier hilft ein Blick in die Geschichte, in der auch andere Gruppen so bezeichnet wurden. Zunächst zur Hamas: Man muss den Kontext verstehen, um sie zu verstehen. Man muss sie in den Kontext des Krieges gegen Palästina stellen, in dem Widerstand stattfindet. Hamas ist Teil einer Widerstandsbewegung und Widerstand nimmt verschiedene Formen an. Einige davon beinhalten Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht. Das war schon so, bevor es das humanitäre Völkerrecht gab. Die Nationale Befreiungsfront (FLN) in Algerien, die Irisch-Republikanische Armee (IRA) oder die Amerikaner, die die britische Kolonialherrschaft stürzten, haben Aktionen gemacht, die Verstösse sind gegen das, was heute als humanitäres Völkerrecht bezeichnet wird. Waren sie eine Bande mörderischer Verbrecher? Nun, so haben die Franzosen die FLN genannt und die Briten die IRA. So nennen die Israelis die Hamas. So nennen die amerikanischen Massenmedien die Hamas. Einige ihrer Aktionen beinhalten schreckliche Taten, die unbestreitbar gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen. Bedeutet das, dass diese Charakterisierung das Wesen von Hamas auf den Punkt bringt? Nein. Die Hamas hat schreckliche Taten begangen und ist gleichzeitig Teil einer Widerstandsbewegung. Ich persönlich halte im Übrigen den Begriff Terrorismus für einen stark ideologisch belasteten Begriff, der für bestimmte politische Zwecke verwendet wird“.