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Der Nahe Osten steht am Abgrund: Israels Politiker und Militärs haben alle Hemmungen abgelegt. Ein Buch schildert die Barbarei.

ARN STROHMEYER, 13. August 2024 

Der Autor ist Journalist und Buchautor und gegenüber dem Zionismus kritisch eingestellt. Er stützt sich hier auf das neue Buch von Johannes Zang: «Kein Land in Sicht? Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg».


Westliche Waffen für die grosse Abrechnung mit der «Achse des Bösen»

Der Nahe Osten steht am Abgrund: Israels Politiker und Militärs haben alle Hemmungen abgelegt. Im Gazastreifen haben Israels Politiker und Militärs einen Genozid begangen und sind dabei, ihn fortzusetzen – wohl mit dem Ziel, die restlichen Palästinenser endgültig aus dem Streifen und auch aus dem Westjordanland zu vertreiben. Eine neue ethnische Säuberung ist also in vollem Gange. 

Zudem haben die Israelis Führer des Hamas und Hisbollah [völkerrechtswidrig] umgebracht und riskieren damit wohl ganz bewusst den grossen Krieg, von dem sich die Zionisten erhoffen, alle Probleme der Region in ihrem Sinne lösen zu können. 

Der Westen – also die USA, die EU und vor allem auch Deutschland – stehen loyal hinter Israel und liefern sogar noch Waffen für die grosse Abrechnung mit der «Achse des Bösen» – dem Iran und seinen Verbündeten. 

Iran soll israelischen Mord im eigenen Land hinnehmen

Die deutsche Aussenministerin klagt in dieser brandgefährlichen Situation nicht den Brandstifter Israel an, sondern das Opfer. Der Mullah-Staat soll sich «mässigen» und «zurückhalten». Der Iran, eine stolze Nation, soll dem zionistischen Treiben auf seinem Staatsgebiet (der Mord an dem Hamas-Führer Hanija war ja nicht der erste auf iranischen Boden) also wohl ohne Widerspruch hinnehmen. Sancta simplicitas! 

Friedensinitiativen, die den Namen wirklich verdienen, hat der Westen weder in der Vergangenheit noch jetzt unternommen. Man hat Israel gewähren lassen, diesen Staat obendrein mit allen Mitteln unterstützt, seine Gewaltpolitik durchzusetzen, und riskiert nun das grosse Armageddon. 

Ein Volk soll seine Existenz im Gazastreifen und im Westjordanland aufgeben

Wer diesen ganzen moralischen und inhumanen Wahnsinn verstehen will, sollte das neue Buch von Johannes Zang lesen: «Kein Land in Sicht? Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg». Der Autor, der Israel und die besetzten Gebiete bestens kennt, weil er viele Jahre dort verbracht hat, schildert in kurzen, übersichtlichen Kapiteln die Tragödie, welche die Schaffung des zionistischen Staates zur Folge hatte: die brutale Vertreibung, Unterdrückung und Besetzung eines ganzen Volkes, das offensichtlich gerade im Gazastreifen und auch im Westjordanland zur endgültigen Aufgabe seiner Existenz in Palästina gezwungen werden soll. 

Der Autor schont in seinen Beschreibungen auch die Palästinenser nicht, schildert vorurteilslos und realistisch ihre Differenzen, Widersprüche und Gewaltausbrüche untereinander. 

Ungleichgewicht der Kräfte

Aber der Konflikt zwischen den beiden Völkern ist von Anbeginn an zu asymmetrisch gewesen, als dass man von der Auseinandersetzung zwischen zwei gleichstarken «Seiten» sprechen könnte. Die Zionisten hatten bei der Realisierung ihres Siedlerprojekts immer durch die Unterstützung der imperialistischen Mächte – erst Grossbritannien und dann die USA – das politische und militärische Übergewicht. 

Die andere Seite hatte so gesehen nie eine Chance. Die Zionisten haben diese Chance mit aller Skrupellosigkeit genutzt und sich deswegen auch erfolgreich durchgesetzt, aber Recht und Moral sind nicht auf ihrer Seite. Israel ist heute ein Pariastaat, der – sieht man von der westlichen «Wertegemeinschaft» ab – kaum noch Vertrauen in der Welt besitzt. 

Man kann dem Autor keine Einseitigkeit vorwerfen. Er versucht immer wieder, auch der israelischen Seite gerecht zu werden, prüft ihre Argumente, möchte auf sie eingehen und sie verstehen, aber die gewaltige Last des Unrechts, das der zionistische Staat den Palästinensern in der Vergangenheit antat und auch immer noch antut, zwingt ihn doch immer wieder, die Partei der Palästinenser zu ergreifen in ihrem gerechten Kampf um Selbstbestimmung, Gleichheit, Gerechtigkeit und menschliche Würde. 

So viele palästinensische Zivilisten dürfen für einen Hamas-Kämpfer «geopfert» werden

Man könnte das Gesagte mit vielen Beispielen aus dem Buch belegen. Aber ein Beispiel ist besonders aufschlussreich und erschütternd, weil es die Brutalität des israelischen Vorgehens im Gazastreifen blosslegt und erklärt, warum die Totenzahlen solche schrecklichen Höhen erreichen. 

Die israelische Armee setzt bei seinem rücksichtslosen Morden ein. Diese Technik hilft bei der genauen Erstellung der Ziele. Zang schreibt unter Berufung auf israelische Quellen: 

«Die Recherche legt offen, welches Zahlenverhältnis die Armee zu akzeptieren bereit war. Für jeden Hamas-Kämpfer der unteren Hierarchieebenen ‹war es erlaubt, bis zu 15 oder 20 Zivilisten zu töten›, bei einem Hamas-Bataillons-Kommandeur dagegen durften es ‹mehr als 100 Zivilisten› sein. 

Um den Hamas-Kommandeur der Gaza-Mitte-Brigade Ayman Nofal am 17. Oktober 2023 zu eliminieren, gab die Armee grünes Licht, ‹um etwa 300 Zivilisten zu töten.›»

Diese Angaben stimmen sehr genau mit den täglichen Nachrichten vom Kriegsschauplatz überein.

Superwaffen gegen «fliegende Mülltonnen»

Es ist kein Geheimnis, dass Israel einer der führenden Produzenten von Rüstungs- und Sicherheitstechnik auf der Welt ist, und dass es seine Kriege dazu nutzt, um neu entwickelte Superwaffen zu testen und sie dann als «praxiserprobt» exportieren zu können. Einer solchen Übermacht an hypermodernen Tötungstechniken haben die Palästinenser und speziell die Hamas nichts entgegenzusetzen. Deren selbst gebastelte Raketen bezeichnen israelische Militärs als «fliegende Mülltonnen». 

Der Westen glänzt durch Schweigen und Wegschauen

Im Nachwort seines Buches rechnet Zang mit der Nahost-Politik des Westens und damit auch Deutschlands ab. Diese Staaten rühmen sich, universalistisch gültige Werte zu vertreten. Doch als Verteidiger der israelischen Politik unterstützen sie in Wirklichkeit das Gesetz des Dschungels. 

Menschenrechte, Genfer Konvention, internationales humanitäres Recht, UNO-Charta – alles Fehlanzeige! Der Autor folgert: 

«Statt auf das Ende [der Militärbesatzung] hinzuarbeiten, haben Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und die USA, ja die ganze Staatengemeinschaft – zumindest die westliche – durch ihr Schweigen und Wegsehen Israel geradezu ermuntert, den Weg der Kolonisierung, Enteignung und Unterdrückung fortzusetzen. Straflosigkeit war sozusagen garantiert.»

Der Gaza-Krieg hat die politischen Fronten in Deutschland weiter polarisiert. Wer Sympathien für die Sache der Palästinenser äussert, ein Ende des Krieges und Menschenrechte und Selbstbestimmung für dieses Volk einfordert, muss damit rechnen, als «Antisemit» angeprangert zu werden. 

Es sei hier noch einmal wiederholt, weil es so unglaublich ist: Der Einsatz für Menschenrechte führt in Deutschland zum «Antisemitismus»-Vorwurf – was für eine infame Perversion und was für eine falsche Schlussfolgerung aus dem Holocaust! 

Sogar kritische Juden werden als Antisemiten angeprangert

Zang beschreibt ausführlich, wie sich diese Perversion in den deutschen Medien fortsetzt und als ideologische Position festgesetzt hat. Die Leitmedien verteidigen so gut wie ausnahmslos Israels verhängnisvollen politischen Kurs. 

In den Talkshows sind auch nur die Nachbeter der israelischen Politik zu sehen – kritische Juden, die universalistische Positionen vertreten, haben kaum Zutritt. Auch diese werden schon als «Antisemiten» tituliert. Was für eine zynische Anmassung: Deutsche, denen bestimmte Juden nicht passen, prangern diese als «Antisemiten» an! Verliererin in diesen an McCarthy erinnernden Kampagnen ist das Kernelement der Demokratie: die Meinungs- und Informationsfreiheit.

Die islamische und arabische Welt hat den Glauben an westliche Werte verloren

Die deutschen Politiker, die hinter Israel stehen, müssen sich von der israelischen Journalistin Amira Hass – Zang zitiert sie ausführlich – sagen lassen, dass sie mit ihrer Loyalität gegenüber dem Besatzungs- und Apartheidstaat Israel die aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung «verraten» haben. Und der Ägypter Mohamed El Baradei, der frühere Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde, schreibt dem Westen und damit auch den Deutschen ins Stammbuch: 

«Darüber hinaus hat die arabische bzw. die muslimische Welt das Vertrauen in vermeintlich westliche Normen wie Völkerrecht und internationale Institutionen, Menschenrechte und demokratische Werte verloren. Ihrer Ansicht nach macht der Westen selbst vor, dass rohe Gewalt über allem steht […] Ohne eine radikale Reform der internationalen Ordnung wird der Gaza-Krieg ein Vorbote einer ausser Kontrolle geratenen Welt sein.»

Die westliche und deutsche Sicht auf Israel und den Nahen Osten sowie die Rolle, die diese Staaten dort spielen, bedürfen einer dringenden Korrektur, sie haben sich dort den falschen «Werten» verpflichtet und verteidigen diese auch noch mit äusserster Gewalt. 

Johannes Zang: Kein Land in Sicht?

Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg,

Papyrossa-Verlag Köln, Juli 2024,

Aus dem Verlagstext: «Wann wurde Rafah geteilt? Wer verdient am Tunnelgeschäft? Was bedeutete das Bertini-Abkommen für die Fischer Gazas? Welcher hochrangige israelische Politiker versicherte schon vor Jahren, die Palästinensische Autonomiebehörde sei »eine Last«, die Hamas dagegen »ein Gewinn«? Anhand von gut hundert Fragen skizziert der Journalist Johannes Zang mosaik­artig Geschichte und Gegenwart des Gazastreifens, den er selbst etwa drei Dutzend Mal besuchte.»

www.infosperber.ch/politik/welt/der-genozid-in-gaza-oder-der-bankrott-der-westlichen-werte

publiziert am 13. August 2024

mit dieser ergänzenden Zusammenstellung:

Jüngste Vorwürfe wegen Völkermord aus ethnischen, religiösen oder politischen Motiven

upg. Die anhaltenden militärischen Angriffe, die Zerstörung von Infrastruktur und die extreme humanitäre Krise im Gaza-Streifen bedeuten die systematische Zerstörung eines Volkes. Mehrere Mitglieder der israelischen Regierung haben erklärt, die Palästinenser aus Gaza und dem Westjordanland vertreiben zu wollen. Israels Zerstörung des Gazastreifens geht weit über das Selbstverteidigungsrecht hinaus.
Im Fall der Palästinenser in Gaza hat der Internationale Gerichtshof der Uno am 26. Januar 2024 an die Adresse Israels folgende vorläufigen Massnahmen angeordnet: Israel soll von
– Massnahmen im Sinne der UN-Völkermordkonvention unterlassen,
– die direkte und öffentliche Aufstachelung zum Völkermord verhindern und bestrafen,
– sofortige und wirksame Massnahmen ergreifen, um das Bereitstellen humanitärer Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza zu gewährleisten.