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Dr. Andreas Krieg, King’s College London:

Schwächt der Tod Marwan Issas die Hamas?

Matthias Kündig, SRF Echo der Zeit, 22. März 2024 

www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/schwaecht-der-tod-marwan-issas-die-hamas?partId=12560690

Matthias Kündig: Israels Ziel im Gaza-Krieg ist die vollständige Zerschlagung der Hamas. Davon scheint man heute nach gut fünf Monaten Krieg jedoch noch weit entfernt. Zwar kontrolliert die israelische Armee mittlerweile den grössten Teil von Gaza ausser der südlichen Stadt Rafah. Aber gebrochen scheint der Widerstand der Hamas nicht. In den letzten Tagen hat die israelische Armee nun die Nummer drei der Hamas Führung im Gazastreifen getötet. Marwan Issa gilt als einer der Drahtzieher des Hamas-Massakers vom siebten Oktober.

Ich habe darüber mit Andreas Krieg gesprochen. Er ist Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College - und ich habe ihn zunächst gefragt, wie stark die Tötung Issas die Hamas im Gazastreifen schwäche.

https://www.kcl.ac.uk/people/krieg-dr-andreas

https://www.andreaskrieg.com

Andreas Krieg: Nicht signifikant, das Problem ist, dass wir die Hamas nicht als eine hierarchische Organisation verstehen dürfen, sondern eben als ein Netzwerk, wo sicherlich einzelne Charaktere in der Herzkammer, sag ich mal, dieses Netzwerks, sehr wichtig sind. Marwan Issa war sicherlich ein sehr wichtiger Kommandant auch für die Kriegsführung. Aber eben: Netzwerke sind extrem widerstandsfähig und resilient, und wenn man einzelne Kommandeure auslöscht oder gefangen nimmt, hat das keinen Rieseneinfluss auf die weitere grössere Kriegsführung, weil viele dieser einzelnen Kammern, dieser Netzwerkkammern, diese einzelnen Brigaden, die mit der Hamas sich verbrüdert haben, mehr oder weniger autonom operieren. Das Problem liegt halt eben auch daran, dass Israel zu sehr sich darauf fokussiert hat, eben die Köpfe der Hamas zu fangen oder zumindest auszulöschen und damit zu sagen, wir haben gewonnen. Das Problem liegt natürlich hier daran, dass die Hamas in erster Linie eine Idee ist, und die Idee selbst kann man eben nicht zerstören, indem man irgendwelche Führungskräfte auslöscht.

Matthias Kündig: Schon vor Wochen verkündete die israelische Armee, sie habe die Hamas aus dem nördlichen Teil des Gazastreifens vertrieben. Nun ist Issa, und kurz darauf auch noch ein wichtiger Kommandant der Hamas, aber eben im Norden Gazas getötet worden. Heisst es, dass die Hamas wieder dorthin zurückkehren konnte?

Andreas Krieg: Ganz genau; also, das Problem ist, dass es eben zwei verschiedene Schlachtfelder gibt, einmal oberirdisch, einmal unterirdisch, und das, was oberirdisch passiert - selbst wenn man oberirdisch Territorium gut macht und auch besetzt und sozusagen von der Hamas befreit, hat das sehr wenig Einfluss auf das, was unterirdisch in diesen Hunderten von Kilometern von Tunneln vor sich geht. Und was jetzt sehr wahrscheinlich passiert ist, ist, dass die Hamas den Korridor, den die Israelis etabliert haben, oberirdisch, der den Gazastreifen in zwei Teile teilt, dass man den unterwandert hat durch das Tunnelsystem, und das auch wiederum zeigt, dass dieser gesamte Krieg mit der gesamten Zerstörung und Leid, was einhergegangen ist, eigentlich sehr wenig Einfluss hat auf die Möglichkeiten der Hamas, sich sehr frei zu bewegen. Und das ist sicherlich das grösste Armutszeugnis, sage ich mal, dieses Krieges, und auch ein ganz klarer Beweis, dass Israel eben nicht dabei ist, diesen Krieg zu gewinnen.

Matthias Kündig: Bedeutet das auch, dass noch ein langer Guerilla-Krieg bevorsteht?

Andreas Krieg: Es ist natürlich ein urbanes Schlachtfeld, also innerhalb der Stadt. Was auch immer sehr, sehr schwierig ist; die Hamas hat es bis jetzt immer geschafft, offene Kriegsführung zu vermeiden, weder im offenen Feld noch in der Stadt. Meistens haben sie nur operiert aus dem Hinterhalt heraus, sind in die Tunnel direkt wieder verschwunden, was es auch sehr schwer macht für die Israelis, die Hamas-Kämpfer dementsprechend zu fangen oder auszulöschen. Und wenn diese Methode jetzt weiter fortgeführt wird und dieses Tunnelsystem nicht zerstört wird, was meines Erachtens fast unmöglich ist, wird es ein Krieg sein, der sich im Endeffekt über viele Monate, wenn nicht Jahre hinziehen kann. Ich denke, dass die Geduld der öffentlichen Meinung, der internationalen Gemeinschaft, vor allem aber auch der USA und den Europäern, dass diese Geduld momentan fast am Ende ist. Ich glaube, dass man den Israelis auch nicht mehr diese Zeit geben wird, diesen langen Krieg weiterzuführen, weil es eben auf die Kosten der Zivilbevölkerung geht.

Matthias Kündig: Erklärtes Ziel der israelischen Regierung ist ja die vollständige Zerschlagung der Hamas, und Israel will bisher mindestens 10’000 Kämpfer der Hamas getötet haben. Was ist bekannt? Wie gross ist die Stärke der Hamas und die Schlagkraft der Hamas noch heute?

Andreas Krieg: Sehr schwierig zu sagen, also, die Israelis benutzen natürlich ganz andere Zahlen als die Hamas selber - irgendwo liegt die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Der wichtigste Indikator für den Erfolg der Israelis, wie sie das eben messen, ist auf Basis von getöteten sogenannten Hamas-Kämpfern, und das sehen wir jetzt auch beim Al Shifa-Krankenhaus. Da werden eben männliche Palästinenser in Gaza als Kombattante geführt oder als - zumindest als potentielle Hamas-Kämpfer geführt. Dementsprechend ist die Zahl, also, wenn man wirklich alle männlichen Zivilisten mit in die Rechnung reinnimmt, dann hat man natürlich eine Situation, wo die Zahl der getöteten männlichen Menschen in Gaza extrem hoch. Das ist natürlich etwas, was mit der Realität sehr wenig zu tun hat, und ich würde eher sagen, dass wahrscheinlich 30 bis maximal 40 Prozent der Hamas-Kämpfer bis jetzt getötet oder gefangen genommen worden sind. Das heisst, mehr als die Hälfte der Hamas-Kämpfer sind auch noch - vor allem die Brigaden sind auch noch operationell aktiv und werden auch immer wieder in den Krieg einsteigen, wenn es ihnen passt.

Matthias Kündig: Um die Hamas als Gefahr für Israel auszuschalten, gäbe es da eine realistische Alternative zu einem militärischen Vorgehen, speziell jetzt auch gegen Rafah im Süden?

Andreas Krieg: Es kann nur eine strategisch-politische Lösung geben. Also die Ursache dieses Krieges ist überhaupt nicht angegangen worden. Es gibt auch, egal wen man fragt, eigentlich in Israel keine wirkliche politische Strategie, und der Ursprung dieses Konfliktes liegt eben an der Besetzung all dieser Gebiete und natürlich auch der Palästinensergebiete, allem aber der Blockade Gazas, die aufgehoben werden muss, und man muss den Menschen im Gaza eben eine politische Alternative anbieten, eine Alternative zur Hamas, und da hat Israel eben nichts geschaffen, ganz im Gegenteil. Ich glaube, dieser Krieg hat jetzt auch noch dazu geführt, dass die Idee des Widerstands, auf der die Hamas ja aufgebaut ist, dass diese Idee erstarkt ist, dass es mehr Leute gibt, die sich einem bewaffneten Widerstand gegen Israel anschliessen, auch wenn nicht im Namen der Hamas. Gleichzeitig ist Israel mehr isoliert, international, als jemals zuvor und das Verhältnis auch zu den USA ist extrem unter Druck geraten. Also, ich glaube, die Israelis haben auf ganzer Linie versagt, sowohl operationell-militärisch, aber als auch strategisch, und jede Strategie wird halt nicht militärisch gefahren, jede Strategie muss politisch gefahren werden, und die militärische Lösung ist im Endeffekt immer nur eine Fortsetzung der Politik, und wenn es da keine politische Lösung gibt, kann das Militär auch einen solchen Krieg nicht gewinnen.

Matthias Kündig: Sie haben gesagt, die Ursache des aktuellen Nahostkonflikts sei die ungelöste Palästinenserfrage. In Israel wird natürlich anders argumentiert. Da sagt man, die Ursache für die gegenwärtigen Zustände seien die Angriffe der Hamas am 7. Oktober.

Andreas Krieg: Gut, das ist natürlich eine Umkehr der Realität, die ja in Israel natürlich auch schon seit Jahren stattfindet. Ich selber habe lange in Israel gelebt, und da leugnet man eben den gesamten Konflikt, der eben schon seit Jahrzehnten vor sich geht, und das sagen natürlich auch sehr viele Leute auch, die Anti-Netanyahu sind, in Israel selber, auch viele in der Opposition sagen auch, dass die Netanyahu-Regierung eben überhaupt keinen Fortschritt gemacht hat in der Palästinenserfrage, und das natürlich auch a) zu einer Radikalisierung geführt hat und b) zu einer Mobilisierung der Palästinenser, nicht nur in Gaza, sondern eben auch im Westjordanland, gegen Israel und gegen den Friedensprozess, weil der Friedensprozess selber mehr oder weniger nicht mehr existent ist und die meisten Leute auch den Glauben an den Prozess selber verloren haben. Und diese Ausweglosigkeit führt zur Radikalisierung. Also das, was die Hamas macht, ist im Endeffekt direktes Resultat der gescheiterten Palästinenserpolitik der Regierung.