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Israel führt im Westjordanland Zwangsumsiedlungen durch und begeht damit ein Kriegsverbrechen

B'Tselem, 18. September 2023  | Aufgefallen 02.10.23

www.btselem.org/press_releases/20230918_forcible_transfer_in_the_west_bank

Updates
www.btselem.org/settler_violence_updates_list

20230804 qabun by sarit michaeli 600

‍Residents of the al-Qabun community evacuate their property. Photo by Sarit Michaeli, B'Tselem, 4 August 2023

Mindestens sechs palästinensische Gemeinschaften sind bereits aus ihren Häusern geflohen, weil sie von Siedlern, die im Dienste des Staates arbeiten, terrorisiert wurden.
Übersetzung mit Unterstützung durch Deepl

Zusammenfassung:

Hirten von ihren Feldern vertreiben, Anwohner körperlich angreifen, mitten in der Nacht in ihre Häuser eindringen, Feuer legen, Herden verscheuchen, Ernten zerstören, Eigentum stehlen, Straßen blockieren und Wassertanks zerstören - das ist es, was Siedler den Palästinensern tagtäglich antun und Dutzenden von palästinensischen Gemeinschaften eine erschreckende Alltagserfahrung diktieren. Diese andauernde Gewalt wird vom Staat gefördert und dient ihm.

Da die Betroffenen niemanden haben, der sie beschützt, und sie keine andere Wahl haben, sind in den letzten zwei Jahren mindestens sechs Gemeinschaften aus ihren Häusern geflohen. Dutzende weitere sind unmittelbar von Zwangsvertreibung bedroht.

In einem neuen Dokument, das am 18. September 2023 veröffentlicht wurde, stellt B'Tselem fest, dass Israel Zwangsumsiedlung durchführt. Israel arbeitet daran, das Leben der Bewohner von Gemeinden in Gebieten, die es übernehmen will, unerträglich zu machen und sie zu zwingen, ihre Häuser und ihr Land zu verlassen.

Diese Politik hat zwei Komponenten: Auf der einen Schiene - die durch militärische Befehle, Rechtsberater und den Obersten Gerichtshof genehmigt ist - vertreibt Israel die Palästinenser von ihrem Land. Auf der anderen, parallelen Schiene wenden Siedler - unterstützt und gefördert von allen staatlichen Behörden und manchmal auch mit deren Beteiligung - Gewalt gegen Palästinenser an. In der Veröffentlichung betont B'Tselem, dass Mitglieder der derzeitigen Regierung, von denen einige in der Vergangenheit persönlich die Gewalt angeführt haben, diese Angriffe fördern und unterstützen. Sie loben gewalttätige Siedler und zerstören mit ihren Handlungen sogar auch nur den Anschein eines funktionierenden Strafverfolgungssystems: Ein Minister ruft dazu auf, "Huwarah auszuradieren", Parlamentsmitglieder besuchen einen Israeli im Krankenhaus, der verdächtigt wird, einen Palästinenser getötet zu haben, Minister weigern sich, die Gewalt zu verurteilen und billigen ein Pogrom in palästinensischen Gemeinden nach dem anderen.

Dies ist eine Politik, die bedeutet, dass Israel das Kriegsverbrechen der gewaltsamen Vertreibung begeht. Das Völkerrecht, zu dessen Einhaltung sich Israel verpflichtet hat, verbietet die Zwangsumsiedlung von Bewohnern eines besetzten Gebiets - egal unter welchen Umständen. Die Tatsache, dass es in diesem Fall nicht darum geht, dass Soldaten in die Häuser der Bewohner eindringen und sie mit Gewalt vertreiben, ändert nichts an der Verantwortung des Staates: Die Schaffung von Zwängen, die den Bewohnern keine andere Wahl lässt, reicht aus, um Israel für dieses Verbrechen verantwortlich zu machen.

Vollständiger Bericht

Die Pogrome zeigen Wirkung - die Vertreibung findet bereits statt

Seit Jahrzehnten ergreift Israel eine Reihe von Massnahmen, um das Leben in Dutzenden von palästinensischen Gemeinschaften im Westjordanland unerträglich zu machen. Dies ist Teil des Versuchs, die Bewohner dieser Gemeinschaften zu zwingen, sich, scheinbar aus eigenem Antrieb selbst zu entwurzeln. Sobald dies geschehen ist, kann der Staat sein Ziel, das Land zu übernehmen, verwirklichen. Um dieses Ziel zu erreichen, verbietet Israel den Bewohnern dieser Orte und Dörfer den Bau von Häusern, landwirtschaftlichen Anlagen oder öffentlichen Gebäuden. Es erlaubt ihnen nicht, sich an das Wasser- und Stromnetz anzuschliessen oder Strassen zu bauen. Wenn sie es trotzdem machen, weil sie keine andere Wahl haben, ist die Reaktion von Israel nicht nur dass es mit Abriss droht sondern dies immer häufiger auch ausführt.

Die Gewalt der Siedler ist ein weiteres Mittel, das Israel einsetzt, um die in diesen Gemeinschaften lebenden Palästinenser zu tyrannisieren. Deren Angriffe haben sich unter der derzeitigen Regierung erheblich verschärft und verwandeln das Leben in einigen Orten in einen nicht enden wollenden Alptraum, der den Bewohnern jede Möglichkeit nimmt, auch nur ein Minimum an Würde zu bewahren. Die Gewalt hat den palästinensischen Bewohnern die Möglichkeit genommen, weiterhin ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie hat sie so sehr terrorisiert, dass sie um ihr Leben fürchten müssen, und sie haben die Erkenntnis verinnerlicht, dass es niemanden gibt, der sie beschützt.

Diese Realität hat diesen Gemeinschaften keine andere Wahl gelassen, und mehrere von ihnen haben es vorgezogen und Haus und Land verlassen, um an sicherere Orte zu gelangen. Dutzende von Gemeinschaften überall im Westjordanland leben unter ähnlichen Bedingungen. Wenn Israel diese Politik fortsetzt, besteht die Gefahr, dass ihre Bewohner auch vertrieben werden, so dass Israel sein Ziel erreichen und ihr Land übernehmen kann.

Hintergrund

Dutzende von palästinensischen Hirtengemeinschaften sind über das ganze Westjordanland verstreut. Da Israel diese als "nicht anerkannt" einstuft, dürfen sie nicht an das Strom- und Wassernetz oder das Strassennetz angeschlossen werden. Israel betrachtet ausserdem alle in diesen Orten errichteten Gebäude - Wohnhäuser, öffentliche Gebäude und landwirtschaftliche Bauten - als "illegal" und erlässt Abrissbefehle, die in oft auch ausgeführt werden. Es gibt Gebäude, die auch mehrmals abgerissen und wieder aufgebaut wurden.

In den letzten Jahren haben Siedler mit Hilfe des Staates Dutzende von Aussenposten und kleinen Gehöften in der Nähe der palästinensischen Gemeinschaften errichtet. Dadurch hat die Gewalt gegen die dort lebenden Palästinenser weitern zugenommen und unter der aktuellen Regierung einen neuen Höhepunkt erreicht. Zu diesen gewalttätigen Übergriffen, die zu einer erschreckenden täglichen Routine geworden sind, gehören die Vertreibung palästinensischer Hirten und Bauern von Weiden und Feldern, körperliche Angriffe auf die Bewohner, das Eindringen in ihre Häuser mitten in der Nacht, das Anzünden palästinensischen Eigentums, das Verscheuchen von Vieh, die Zerstörung von Ernten, Diebstahl und Strassensperren. Palästinensische Einwohner haben auch berichtet, dass Wassertanks entleert und Siedlern gehörende Herden zur Tränke an palästinensische Wasserreservoirs gebracht wurden.

Unter diesen Umständen war den palästinensischen Anwohnern der Zugang zu ihren Weiden und Feldern verwehrt. Dann begannen die Siedler in einigen Orten auch noch, auf dem Boden der Palästinenser und unter dem Schutz des israelischen Militärs, selbst Felder zu bestellen. An anderen Orten begannen die Siedler, ihre eigenen Herden auf Weideflächen zu weiden, die bis vor kurzem noch von palästinensischen Hirten genutzt worden waren. Ohne Zugang zu Weideland mussten die Palästinenser Futter und Wasser für ihre Herden zu hohen Kosten kaufen, was zu erheblichen finanziellen Verlusten führte und ihre Lebensgrundlage zerstörte.

Die derzeitige Regierung spielt in dieser Situation eine wichtige Rolle. Sie hat zwar keine neuen Massnahmen in Bezug auf palästinensische Bauvorhaben, Hauszerstörungen eingeführt, doch verleiht sie der Gewalt der Siedler gegen Palästinenser volle Legitimität, indem sie die Täter öffentlich ermutigt und unterstützt. Mitglieder dieser Regierung haben in der Vergangenheit selbst solche Gewalttaten verübt. Jetzt sind sie es, die die Politik gestalten. Sie teilen die Mittel zu, mit denen diese Gewalt finanziert wird, obschon sie eigentlich für die Durchsetzung des Gesetzes gegen Siedler, die Palästinenser angreifen, verantwortlich wären.

Diese Regierung gibt sich nicht einmal mit den inhaltsleeren Verurteilungen ab, die einst nach solchen Gewalttaten zu hören waren, und lobt stattdessen gewalttätige Siedler. Während frühere Regierungen darauf bestanden, die Fassade eines funktionierenden Strafverfolgungssystems aufrechtzuerhalten, das gegen Israelis, die Palästinenser verletzen, ermittelt und sie strafrechtlich verfolgt, arbeiten Mitglieder dieser Regierung daran, jede Spur davon auszulöschen: ein Minister rief dazu auf, "Huwarah auszulöschen". Mitglieder der Koalitionsparteien statteten einem Israeli, der verdächtigt wurde, einen Palästinenser getötet zu haben, einen Krankenhausbesuch ab, Minister weigerten sich, die Gewalt zu verurteilen, während sie Pogrome in palästinensischen Gemeinschaften stillschweigend billigten.

Die ersten, die unter den Folgen dieses Wandels zu leiden haben, sind die isoliertesten und verletzlichsten palästinensischen Gemeinschaften. Diese leben unter einfachsten Bedingungen und sind von Siedler-Aussenposten umgeben, deren Bewohner einen Freibrief haben, sie ungestraft zu schädigen. Wenn die Palästinenser in Ortschaften wie Turmusaya und Um Safa keinen Schutz erhalten, während Soldaten und Polizisten mit den Pogromisten zusammenarbeiten, welche Hoffnung haben dann die Bewohner dieser isolierten Hirtengemeinden? Die Angst um ihr Überleben und die Erkenntnis, dass sie und ihre Kinder ihrem Schicksal überlassen wurden, während sie gleichzeitig ihre Einkommensquellen verloren haben, hat sie verständlicherweise zum Aufgeben gezwungen, da sie dort nicht mehr weiterleben können.

Die vertriebenen Gemeinschaften

In den vergangenen zwei Jahren wurden mindestens sechs Gemeinschaften im Westjordanland vertrieben. Vier von diesen lebten nördlich und nordöstlich von Ramallah. Einige ihrer Mitglieder lebten auf Land, das anderen Palästinensern gehörte, die sich bereit erklärt hatten, sie dort wohnen zu lassen, nachdem sie von anderen Orten in Israel und im Westjordanland vertrieben worden waren. In den letzten Jahren wurden mit staatlicher Hilfe mehrere israelische Wohn- und Landwirtschaftsaussenposten in der Umgebung dieser Gemeinschaften errichtet, der erste, Micha's Farm, wurde 2018 errichtet. Wie anderswo im Westjordanland wurden diese Siedlungsaussenposten an das Wasser- und Stromnetz sowie an das Strassennetz angeschlossen. Sie geniessen Immunität vor Abriss, und ihre Bewohner arbeiten eng mit dem Militär zusammen, das sie schützt. Einige dieser Aussenposten wurden in Gebieten errichtet, in denen offiziell gar keine Siedlungen gebaut werden dürften, da Israel sie zu "Firing Zones", militärischen Sperrgebieten, erklärt hat. Trotzdem erhielten sie die Unterstützung des Staates.

Die vier vertriebenen Dörfer in diesem Gebiet sind:

  • Ras a-Tin: Am 7. Juli 2022 zogen es die rund 120 Mitglieder dieser Gemeinschaft, etwa die Hälfte von ihnen minderjährig, vor, ihren bisherigen Wohn- und Lebensbereich selbst zu räumen. Die Gemeinschaft war Ende der 1960er Jahre von Palästinensern gegründet worden, die Israel aus der Hügellandschaft südlich von Hebron vertrieben hatte. Gegründet wurde Ras a-Tin auf registriertem, privatem palästinensischem Land, das Bewohnern von Kafr Malik und al-Mughayir gehörte. Im Laufe der Jahre erliess die "Zivilverwaltung" [die Verwaltung der militärischen Besatzung] Abrissverfügungen gegen einige der Gebäude der Bewohner. Bis heute hat Israel drei nicht als Wohnraum dienende Gebäude abgerissen. Die Zivilverwaltung hatte auch einen Abrissbefehl für die von den Bewohnern der Gemeinde gebaute Schule ausgestellt. Im Jahr 2018 wurde in der Nähe von Ras a-Tin der Siedlungsaussenposten Micha's Farm errichtet. Seither berichteten die Bewohner von einem erheblichen Anstieg gewalttätiger Vorfälle, darunter Belästigung, Diebstahl, Vandalismus und verbale Gewalt, die zur täglichen Routine wurden.
  • Ein Samia: Am 22. Mai 2023 verliessen die letzten verbliebenen Bewohner ihre Häuser in 'Ein Samia, wo einst 28 Familien mit insgesamt etwa 200 Mitgliedern lebten. Sie hatten sich dort 1980 auf von Bewohnern des nahegelegenen Kafr Malik gepachteten Grundstücken angesiedelt, nachdem sie von Israel mehrmals aus anderen Orten vertrieben worden waren. Im Laufe der Jahre erliess die Zivilverwaltung Abrissverfügungen gegen einige der Bauten, und bis heute hat Israel 21 Häuser der Gemeinschaft, in denen 83 Menschen, darunter 52 Minderjährige, lebten, sowie weitere 28 Nichtwohngebäude abgerissen. Die Zivilverwaltung erliess auch einen Abrissbefehl für die Schule für rund 40 Kinder. Im Oktober 2022 wies das Jerusalemer Bezirksgericht einen Antrag von Anwohnern auf Aussetzung des Abrisses ab. Die Bewohner verliessen jedoch den Ort, noch bevor der Abrissbefehl ausgeführt wurde. Die Bewohner von 'Ein Samia berichteten auch über eine deutliche Zunahme der Gewalt durch Siedler ab 2018. Eine Woche vor dem Wegzug beschlagnahmte die Polizei Dutzende von Schafen und Ziegen der Bewohner mit der falschen Behauptung, sie seien Siedlern gestohlen worden. Siedler drangen nachts in die Gemeinde ein, griffen Anwohner und die Schule an, flogen mit einer Drohne über sie hinweg und brannten Weideflächen ab. Ausserdem liessen sie ihre Herde auf den Feldern der Palästinenser frei und die Tiere haben die ganze Ernte verzehrt..
  • al-Baq’ah: Am 10. Juli 2023 wurden 33 Personen, darunter 21 Minderjährige, vertrieben. Am 1. September 2023 auch noch die letzte verbliebene Familie mit 5 Personen, darunter ein Minderjähriger. Ihrem Wegzug waren tägliche Angriffe von Siedlern vorausgegangen, die etwa 50 Meter von den Häusern von al-Baq’ah entfernt einen landwirtschaftlichen Betrieb errichtet, Sonnenkollektoren installiert, sich an die Wasserinfrastruktur des nahe gelegenen Aussenpostens Neve Erez angeschlossen hatten. Sie hatten auch die Kontrolle über die Zufahrtsstrasse von al-Baq’ah zur Hauptstrasse übernommen. Die Siedler weideten ausserdem ihre 60 bis 70 Schafe auf den Weiden von al-Baq’ah und schikanierten die Hirten, die dort mit ihren eigenen Herden waren. Am 7. Juli 2023, gegen 6.30 Uhr, wurde ein Wohnzelt, das etwas isoliert gelegen war, in Brand gesetzt. Die Familie war zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause, da sie seit der Einrichtung des Aussenpostens aus Angst vor Siedlerangriffen ihre Nächte anderswo verbracht hatte. Die Familie sah das Feuer aus der Ferne und rief die Polizei, aber niemand kam zum Tatort.
     
  • al-Qabun: Die Gemeinschaft, in der 12 Familien mit insgesamt 86 Bewohnern, darunter 26 Minderjährige, lebten, wurde Anfang August 2023 vertrieben. Sie lebte seit 1996 an diesem Ort, nachdem Israel ihre Sippe in den frühen 1950er Jahren aus dem Negev vertrieben hatte. Im Laufe der Jahre erliess die Zivilverwaltung Abrissbefehle gegen einige der Gebäude der Bewohner, und bis heute hat Israel sechs Häuser, in denen 41 Menschen, darunter 18 Minderjährige, lebten, sowie 12 Nichtwohngebäude abgerissen. Im Februar dieses Jahres errichteten Siedler einen Aussenposten in der Nähe der Gemeinde, in einem Gebiet, das Israel zur "Firing Zone", d.h. zum Sperrgebiet, erklärt hatte. Die Siedler belästigten die Bewohner, die berichteten, dass sie um ihre Häuser herum- und sogar in sie hineingingen, dass sie spät nachts auf Pferden und in Geländewagen ankamen, sie einschüchterten, ihre Felder übernahmen und sie daran hinderten, ihre Herden zu weiden.

Mindestens zwei weitere Gemeinschaften wurden im Gebiet südlich von Hebron gewaltsam vertrieben. Die erste war Khirbet Simri, ein Weiler mit zwei Familien von zwei Brüdern und insgesamt 20 Mitgliedern, darunter acht Minderjährigen. Im Jahr 1998 wurde der Aussenposten Mitzpe Yair auf dem Hügel errichtet, auf dem die Gemeinschaft gelebt hatte, und die Gewalt nahm zu. Siedler schikanierten Mitglieder der Gemeinschaft, bedrohten sie, drangen in ihre Häuser ein und hinderten sie daran, ihre Herden zu weiden. Im Jahr 2020 brachten Siedler eine Rinderherde mit, die sie auf dem Land weideten, das Bewohner der Gemeinschaft zum Weiden genutzt hatten. Im Juli 2022 beschlossen die Bewohner, die Gemeinde zu verlassen.

Der zweite Weiler, der verlassen wurde, war Widady a-Tahta mit ebenfalls 20 Bewohnern, darunter 12 Minderjährigen. Diese Gemeinschaft lebte seit etwa 50 Jahren an diesem Ort. Vor etwa zwei Jahren errichteten Siedler einen Aussenposten etwa 500 Meter von ihren Häusern entfernt. Seitdem haben die Siedler wiederholt den Zugang zu den Weideflächen in der Umgebung ihrer Häuser blockiert, unter anderem durch den Einsatz einer Drohne, die die Herde aufscheuchte und vertrieb. Bewaffnete Siedler drangen auch immer wieder in die Häuser der Bewohner ein, in einigen Fällen mit einem Hund, und griffen die Bewohner an, schlugen sie und bedrohten sie mit Waffengewalt. Darüber hinaus erliess die Zivilverwaltung vor etwa einem Jahr Abrissverfügungen für alle Gebäude in dem kleinen Weiler - drei Wohnhäuser und ein Viehgehege. Am 27. Juni 2023 drangen zwei bewaffnete Siedler in die Siedlung ein und bedrohten einen der Bewohner, der seine Schafe in der Nähe seines Hauses weidete. Die Siedler versuchten, die Schafe zu stehlen, doch als sie die Bewohner herankommen sahen, liessen sie von ihnen ab und kehrten zu ihrem Aussenposten zurück. Die Familie wandte sich an die Polizei, doch diese lehnte es ab, ihr zu helfen. Nach diesem Vorfall kam die Familie zu dem Schluss, dass die Gefahr zu gross war und sie den Ort verlassen musste.

Teil einer seit langem verfolgten Politik

Diese Gemeinschaften haben sich nicht aus dem Nichts heraus für den Wegzug entschieden. Dieser ist das unmittelbare Ergebnis der israelischen Politik, die darauf abzielt, genau das zu erreichen: die Palästinenser zu vertreiben und ihren Lebensraum zu verkleinern, um ihr Land in jüdische Hände zu überführen. Diese Politik stützt sich auf eine Reihe von Restriktionen und missbräuchlichen Massnahmen und Praktiken des Staates und seiner Vertreter, die in unterschiedlicher Strenge und sowohl offiziell als auch inoffiziell durchgeführt werden. 

Der offizielle Weg: Extreme Einschränkungen für Bau und Entwicklung

Israel verbietet palästinensische Bau- und Entwicklungstätigkeit im Gebiet C, das 60 % des Westjordanlands umfasst. In diesem Gebiet leben 200'000-300'000 Palästinenser, von denen Tausende in Dutzenden von Hirten- und Bauerngemeinschaften leben. Obschon die meisten Palästinenser im Westjordanland in den im Osloer Abkommen als Zonen A und B festgelebten Gebieten leben, sind alle Palästinenser von dem Bauverbot betroffen. Der Grund dafür ist, dass zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Osloer Abkommens vor rund 30 Jahren die Gebiete A und B bereits weitgehend besiedelt waren. Die Gebiete mit Potenzial für städtische, landwirtschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung liegen jedoch grösstenteils im Gebiet C, wo sich die palästinensische Bevölkerung seither fast verdoppelt hat.

Um palästinensische Bautätigkeiten in Gebiet C zu verhindern, hat Israel etwa 60 % dieses Gebietes als für palästinensische Bautätigkeiten verboten definiert, indem es grosse (und sich manchmal überschneidende) Gebiete mit verschiedenen rechtlichen Definitionen versah: "Staatsland" umfasst etwa 35 % des Gebiets C, militärische Übungsplätze (Schiesszonen) etwa 30 % des Gebiets C, Naturschutzgebiete und Nationalparks weitere 14 % und Siedlungsgebiete weitere 16 % des Gebiets C. Israel führt einen unerbittlichen Krieg gegen die in diesen Gebieten lebenden Palästinenser, indem es sie immer wieder unter falschen Vorwänden wie "militärische Übungen" von ihrem Land vertreibt, ihre Häuser abreisst und ihr Eigentum beschlagnahmt.

In den verbleibenden 40 % des Gebiets setzt Israel, das die vollständige und ausschliessliche Kontrolle über Bau und Planung in der Zone C im Westjordanland hat, extreme Beschränkungen für Bau und Entwicklung durch. Die Zivilverwaltung weigert sich, für die überwiegende Mehrheit der palästinensischen Gemeinschaften in diesem Gebiet Rahmenpläne zu erstellen. Die wenigen von der Zivilverwaltung genehmigten Rahmenpläne, die weniger als 1 % der Zone C ausmachen und in Gebieten liegen, die grösstenteils bereits bebaut sind, entsprechen nicht den heute weltweit anerkannten Planungskriterien.

Die Chancen eines Palästinensers, eine Baugenehmigung zu erhalten, selbst für ein Grundstück in Privatbesitz, sind verschwindend gering. Nach Angaben der Zivilverwaltung, die Peace Now zur Verfügung gestellt wurden, wurden in den zehn Jahren zwischen 2009 und 2018 von 4'422 eingereichten Genehmigungsanträgen nur 98 Genehmigungen für Wohn-, Industrie-, Landwirtschafts- und Infrastrukturbauten erteilt (2 %). Nach Angaben der israelischen Nichtregierungsorganisation Bimkom wurden von 2'550 Anträgen, die zwischen 2016 und 2020 eingereicht wurden, 24 genehmigt (weniger als 1 %). Die Zahl der eingereichten Genehmigungsanträge spiegelt nicht unbedingt den Baubedarf der Palästinenser wider, denn die meisten Palästinenser machen sich nicht mehr die Mühe, Bauanträge einzureichen, da sie wissen, dass sie ohnehin abgelehnt werden.

Das Fehlen von Rahmenplänen verhindert nicht nur den Wohnungsbau, sondern auch den Bau von öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und medizinischen Einrichtungen sowie von Infrastrukturen, einschliesslich des Anschlusses an das Strassennetz und an die Wasser- und Stromnetze. Aufgrund des Klimawandels wird das Leben der palästinensischen Bewohner durch die Einschränkungen der Infrastruktur von Jahr zu Jahr schwieriger. Israel verweigert den Bewohnern nicht nur den Anschluss an die Infrastruktur, sondern hindert sie auch daran, sich eigenständig um ihren Bedarf zu kümmern, indem es das Graben von Wasserzisternen und die Installation von Solaranlagen verbietet und regelmässig Wassertanks beschlagnahmt. Ohne Anschluss an fliessendes Wasser liegt der Wasserverbrauch in diesen Orten bei 26 Litern pro Tag und Person, was dem Wasserverbrauch in Katastrophengebieten entspricht und etwa einem Viertel der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen 100 Liter pro Tag und Person entspricht.

Angesichts dieser Bedingungen sind die Palästinenser gezwungen, die Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen und ihre Häuser ohne Genehmigung zu bauen. Sie tun dies, weil sie gar keine Möglichkeit haben, legal zu bauen. Die Zivilverwaltung erlässt Abrissverfügungen gegen diese Bauten und manchmal vollstreckt sie diese auch. Nach Angaben von B'Tselem hat Israel zwischen 2006 und dem 31. Juli 2023 im gesamten Westjordanland 2'123 Häuser abgerissen. 8'580 Menschen verloren bei diesen Abrissen ihr Zuhause, darunter 4'324 Minderjährige. In dieser Zeit hat Israel auch 3'387 Nicht-Wohngebäude abgerissen.

Durch die Verwendung eines sterilen juristischen und städtebaulichen Vokabulars und das Festhalten an militärischen Befehlen und "Planungs- und Baugesetzen" gelingt es Israel, die Palästinenser aus grossen Gebieten, die es ins Visier genommen hat, zu vertreiben und sie in kleinere Gebiete zu zwingen, wo Israel ihnen jegliche Entwicklung verwehrt und sie keine Zukunft haben. Die Palästinenser, die an den bedrohten Orten verharren, sind gezwungen, in ständiger Ungewissheit über ihre Zukunft und in ständiger Angst davor zu leben, dass Mitarbeiter der Zivilverwaltung kommen, um Abrissbefehle zu erteilen oder das, was sie bereits gebaut haben, abzureissen. Sie leben in einem Zustand ständigen Mangels, unter Bedingungen, die nicht annähernd mit denen in den Siedlungen vergleichbar sind, die in direkter Nähe, oft auf ihrem eigenen Land gebaut wurden.

Der inoffizielle Weg: Gewalt durch Siedler

Die israelische Landnahme wird auch durch tägliche Gewaltakte von Siedlerbanden betrieben, die ohne Angst vor Konsequenzen agieren und vom Staat direkt oder indirekt bewaffnet, unterstützt, gefördert und finanziert werden. Diese Gewaltakte sind Teil einer breit angelegten Strategie, die darauf abzielt, die Palästinenser aus dem Gebiet C zu vertreiben.

In den letzten Jahren wurden im gesamten Westjordanland von israelischen Organisationen etwa 70 "Farmen" gegründet. Deren Erstellung erfordert weitaus weniger Ressourcen als der Bau einer Wohn-Siedlung. Durch Weidehaltung von Schafen und Rindern ermöglichen diese Betriebe die Übernahme riesiger Flächen von Tausenden von Dunam (1 Dunam = 1.000 Quadratmeter), die in der Regel Weideland, Wasserressourcen und von Palästinensern bewirtschaftetes Land enthalten. Die relativ kleine Anzahl dieser Siedler, die in diesen Farmen wohnen, terrorisiert die in ihrer Nähe lebenden Palästinenser.

Zu den wichtigsten Taktiken der Siedler gehören die Aneignung von Weideland durch das Weiden von Schafen und Rindern, das Hineinfahren von Geländewagen in palästinensische Herden und das Überfliegen der Herden mit Drohnen, um die Tiere zu verängstigen und zu verscheuchen, die Anwendung physischer Gewalt gegen palästinensische Bewohner - auf den Weiden und Feldern und in ihren Häusern - sowie die Beschädigung von Wasserquellen.

Mit dieser Taktik ist es den Siedlern gelungen, palästinensische Hirten und Bauern von den Feldern, Weiden und Wasserquellen zu vertreiben, auf die sie sich seit Generationen verlassen hatten, und die Kontrolle über sie zu übernehmen. Nachforschungen, die B'Tselem vor etwa zwei Jahren anstellte, ergaben, dass fünf kleine Siedler-Farmen mit nur ein paar Dutzend Bewohnern - in der Regel ein oder zwei Familien und einige Jugendliche - ein Gebiet von insgesamt mehr als 28'000 Dunam Acker- und Weideland übernommen haben, das seit Generationen von palästinensischen Gemeinschaften genutzt wird.

Das Militär, das sich dieser Taten wohl bewusst ist, vermeidet es grundsätzlich, gewalttätige Siedler zu konfrontieren, stattdessen beteiligen sich die Soldaten manchmal selbst an diesen Taten oder schützen die Siedler aus der Ferne. Die Untätigkeit Israels setzt sich nach Angriffen von Siedlern auf Palästinenser fort, und die Vollzugsbehörden tun ihr Möglichstes, um nicht auf diese Vorfälle zu reagieren. Es ist schwierig, Beschwerden einzureichen, und in den wenigen Fällen, in denen tatsächlich Ermittlungen eingeleitet werden, werden diese schnell wieder vom System schöngefärbt. Gegen Siedler, die Palästinenser verletzen, werden kaum Anklagen erhoben, und wenn doch, dann meist wegen geringfügiger Vergehen, die im seltenen Fall einer Verurteilung mit geringen Strafen geahndet werden.

Das ist nichts Neues. Die von Siedlern begangene Gewalt gegen Palästinenser ist seit den ersten Tagen der Besatzung in zahllosen Regierungsdokumenten und Dossiers, Tausenden von Zeugenaussagen von Palästinensern und Soldaten, Büchern, Berichten von palästinensischen, israelischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen und Tausenden von Medienberichten dokumentiert worden. Diese umfassende und konsequente Dokumentation hat so gut wie keine Auswirkungen auf die Gewalt von Siedlern gegen Palästinenser gehabt, die längst zum festen Bestandteil des Lebens unter der Besatzung im Westjordanland geworden ist.

Diese Politik hat dazu geführt, dass Palästinenser keinerlei Schutz geniessen und ihnen sogar das Recht verwehrt wird, sich gegen Eindringlinge in ihre Häuser zu verteidigen. Wenn Palästinenser versuchen, angreifende Siedler abzuwehren, unter anderem durch das Werfen von Steinen, werden sie von Soldaten, die bis dahin tatenlos zusahen oder sich an dem Angriff beteiligten, mit Tränengaskanistern, Betäubungsgranaten, gummiummantelten Metallgeschossen und sogar scharfen Geschossen beschossen. In einigen Fällen werden Palästinenser auch verhaftet, und einige werden strafrechtlich verfolgt.

Der Staat legitimiert nicht nur die Gewalt gegen Palästinenser, sondern auch die Ergebnisse dieser Handlungen, indem er Siedlern erlaubt, auf dem Land zu bleiben, das sie Palästinensern gestohlen haben. Das Militär verbietet Palästinensern, diese Gebiete zu betreten, und der Staat unterstützt die auf ihnen errichteten Siedlungen in vollem Umfang. Dutzende von Aussenposten und landwirtschaftlichen Aussenstellen, die ohne offizielle Genehmigung errichtet wurden, bleiben bestehen, während Israel über die Ministerien, die Siedlungsabteilung der Zionistischen Weltorganisation und die regionalen Räte im Westjordanland Unterstützung leistet. Der Staat subventioniert auch finanzielle Vorhaben in den Aussenposten, einschliesslich landwirtschaftlicher Einrichtungen, unterstützt neue Landwirte und die Schafzucht, weist Wasser zu und verteidigt sie rechtlich gegen Anträge auf ihre Entfernung.

So begann der Zwangstransfer und so geht er weiter

Israel arbeitet daran, das Leben der Palästinenser, die in von ihm beanspruchten Gebieten liegen, so unglücklich zu machen, dass sie es nicht mehr aushalten, wegziehen und ihre Häuser und ihr Land dem Staat überlassen. Diese Politik wird auf zwei parallelen Wegen umgesetzt. Auf der einen Schiene - abgesegnet von militärischen Befehlen, Rechtsberatern und dem Obersten Gerichtshof - vertreibt der Staat die Palästinenser von ihrem Land. Auf der anderen parallelen Schiene gehen Siedler gewaltsam gegen Palästinenser vor, unterstützt von staatlichen Kräften und manchmal auch mit deren Beteiligung.

Diese Politik hat zur Zwangsumsiedlung von mindestens sechs Dörfern geführt, aber auch viele andere im gesamten Westjordanland sind von derselben Brutalität betroffen und sind unmittelbar von der Vertreibung bedroht.

Mit dieser Politik macht sich Israel des Kriegsverbrechens der Zwangsumsiedlung schuldig. Das Völkerrecht, zu dessen Einhaltung sich Israel verpflichtet hat, verbietet die Zwangsumsiedlung von Bewohnern eines besetzten Gebiets - egal unter welchen Umständen. Um als Verbrechen der Zwangsumsiedlung qualifiziert zu werden, ist es nicht notwendig, dass in einem speziellen Fall Soldaten in die Häuser der Bewohner eindringen und sie mit Gewalt vertreiben. Die Schaffung eines mit Zwang verbundenen Umfelds, das den Bewohnern keine andere Wahl lässt, reicht aus, um Israel für dieses Verbrechen verantwortlich zu machen.

Diese Gemeinschaften werden nicht aufgrund einer Naturkatastrophe oder anderer unvermeidbarer Umstände vertrieben. Es ist eine Entscheidung, die das Apartheidregime trifft, um sein Ziel zu erreichen, die jüdische Vorherrschaft im gesamten Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer aufrechtzuerhalten. Dieses Regime betrachtet Land als eine Ressource, die nur der jüdischen Öffentlichkeit dienen soll, und deshalb wird Land fast ausschliesslich für die Entwicklung und Ausweitung bestehender jüdischer Siedlungen und die Errichtung neuer Siedlungen verwendet.

Daher ist es eine Pflicht, sich dem laufenden Transfer zu widersetzen. Umgekehrt gibt es keine Rechtfertigung, weiterhin mit der Umsetzung von Strategien zu kooperieren, die diesen Transfer vorantreiben. Wachsende Teile der israelischen Öffentlichkeit haben in letzter Zeit erklärt, dass sie sich weigern, in der Armee eines undemokratischen Landes zu dienen. Nichts ist ehrenwerter als die Weigerung, sich an der Begehung eines Kriegsverbrechens und an der Umsetzung einer Transferpolitik zu beteiligen.